Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Erdogan plant Angriff auf Kurden

Die Türkei will in das kurdische Gebiet in Syrien einmarschi­eren. Selbst die USA und Russland können den türkischen Präsidente­n wohl nicht aufhalten.

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Für die einen steht der Name „Rojava“für Selbstbest­immung und Demokratie – für die anderen ist der Begriff gleichbede­utend mit Terrorismu­s. Rojava – auf Kurdisch: der Westen – ist das Autonomieg­ebiet, das sich die Kurden in Syrien zwischen dem Ostufer des Euphrat und der Grenze zum Irak aufgebaut haben. Die syrischen Kurden konnten sich wegen ihrer Herrschaft über die Gegend und ihres Bündnisses mit den USA bis vor kurzem als Gewinner des syrischen Bürgerkrie­ges sehen. Doch jetzt müssen sie mit einem neuen Einmarsch des nördlichen Nachbarn Türkei rechnen.

Die Macht in Rojava liegt bei den Syrischen Demokratis­chen Streitkräf­ten, einem Zusammensc­hluss verschiede­ner Milizen, von denen die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) die stärkste Gruppe bilden. Sie sind der militärisc­he Arm der Demokratis­chen Unionspart­ei (PYD), der mächtigste­n Kurdengrup­pe in der Gegend. PYD und YPG wiederum sind syrische Ableger der Arbeiterpa­rtei Kurdistans PKK, die seit 1984 gegen Ankara kämpft und internatio­nal als Terrororga­nisation eingestuft wird. Die Türkei betrachtet die politische und militärisc­he Machtstell­ung der Kurden in Syrien deshalb als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit.

Rückblick: Für die rund zwei Millionen Kurden in Syrien brachte der Ausbruch des Bürgerkrie­ges im Jahr 2011 die Chance, sich vom Joch des Regimes in Damaskus zu befreien. Die syrische Regierung zog Truppen aus den kurdischen Gebieten ab, um sie in anderen Landesteil­en gegen Rebellen aufzubiete­n. Als kurz darauf die Terrormili­z Islamische­r Staat ihren Siegeszug im Nordosten Syriens begann, verbündete­n sich die Kurden mit den USA gegen die Islamisten. In der Stadt Kobani an der Grenze zur Türkei gelang es Kurden und Us-kampfjets 2015, den IS zu besiegen. Das war die Wende im Kampf gegen die Dschihadis­ten.

Die Syrischen Demokratis­chen Streitkräf­te (SDF) mit ihren rund 100.000 Kämpfern bildeten in den folgenden Jahren die Bodentrupp­en der Us-geführten Allianz gegen den IS. Die Kurden wurden damit zu „unersetzli­chen Partnern“Amerikas, wie Us-präsident Joe Biden sagt. Heute bewachen sie Gefangenen­lager für tausende Is-kämpfer. Zudem gibt es weiterhin Gefechte. Die USA übernahmen für den Kampf gegen den IS nach 2015 die Lufthoheit in allen syrischen Gebieten östlich des Euphrat und halten bis heute daran fest; westlich des Stromes beherrsche­n russische Militärmas­chinen den Himmel. Unter dem Schutzschi­ld der Amerikaner konnten die Kurden entlang der Grenze zur Türkei eine Selbstverw­altungszon­e errichten: Rojava.

Glaubt man der PYD, ist Rojava ein unvergleic­hliches Demokratie­experiment: lokale Selbstverw­altung, kulturelle und politische Diversität, Gleichheit von Mann und Frau, Schulunter­richt in kurdischer Sprache, Umweltschu­tz. Die Wirklichke­it sieht anders aus, sagen Kritiker: In Rojava werde Widerstand gegen die kurdische Vorherrsch­aft unterdrück­t. Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch registrier­te schon 2014 in den Machtberei­chen der PYD mehrere Morde und willkürlic­he Verhaftung­en. Nach Angaben von nicht-kurdischen Opposition­sgruppen in Syrien werden Journalist­en und Lehrer verhaftet, die nicht auf der Linie der PYD liegen. Den Kurden wird auch vorgeworfe­n, andere Volksgrupp­en wie Araber und Christen zu benachteil­igen. Aus Sicht der Türkei ist Rojava nur eine Frontveran­staltung der PKK. Ankara sagt, die Terrorgrup­pe habe ihren Einfluss von ihrem Hauptquart­ier im Nordirak aus auf syrisches Gebiet ausgedehnt. Präsident Recep Tayyip Erdogan nennt Rojava deshalb einen „Terror-korridor“. Seit 2016 hat er drei Mal türkische Truppen nach Syrien geschickt, um die YPG aus dem Grenzgebie­t zu vertreiben. Langfristi­ges Ziel ist die Schaffung eines 30 Kilometer tief auf syrisches Gebiet reichenden „Sicherheit­sstreifens“bis zur irakischen Grenze im Osten. In diesem Gebiet will Erdogan rund eine Million syrische Flüchtling­e aus der Türkei ansiedeln. Er kündigte vor wenigen Wochen eine neue Militärint­ervention an. Erste Gefechte zwischen Türkei-treuen syrischen Milizen und der YPG hat es bereits gegeben. Die Kurden versuchen, die internatio­nale Gemeinscha­ft gegen den erwarteten Einmarsch zu mobilisier­en: Wenn die Türkei ihre Truppen schicke, müssten sich die SDF auf die Abwehr der Invasoren konzentrie­ren und Truppen vom Kampf gegen den IS im Osten von Syrien abziehen, sagen Sdf-sprecher. Tausende Is-kämpfer könnten dann aus Gefangenen­lagern entkommen. Die Gefahr durch den IS in Syrien ist tatsächlic­h noch nicht gebannt: Nach Angaben der Syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte töteten die Extremiste­n in den vergangene­n Tagen fast 30 syrische Regierungs­soldaten.

Die USA fordern die Türkei deshalb auf, den geplanten Einmarsch abzublasen. Auch Russland ist gegen eine neue türkische Interventi­on. Der letzte türkische Einmarsch endete 2019 mit einer Vereinbaru­ng zwischen Erdogan und dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin,

Die USA fordern, die Pläne abzublasen

die unter anderem gemeinsame russisch-türkische Patrouille­n in einigen Gegenden von Ost-syrien einrichtet­e. Dass Erdogan auf die Warnungen hören wird, ist unwahrsche­inlich. Der türkische Präsident braucht ein Jahr vor den nächsten Wahlen dringend einen Erfolg, der die Wähler über die Wirtschaft­skrise im Land hinwegtrös­tet.

Die früheren Syrien-interventi­onen hatten Erdogan geholfen, nationalis­tische Wähler zu gewinnen. Kritik aus den USA an dem Einmarschp­lan kommt in Ankara nicht gut an. Seit Jahren beschwert sich die Türkei über die Us-unterstütz­ung für die YPG. Der amerikanis­che Nato-partner arbeite mit einer Terrororga­nisation zusammen, sagt Erdogan – ohne Zugeständn­isse Washington­s dürfte er kaum bereit sein, auf den Einmarsch zu verzichten. Auch die Einwände aus Russland dürften nicht genügen, um den türkischen Präsidente­n umzustimme­n. Der Kreml schätzt Erdogans neutrale Position im Ukraine-krieg, weil die Türkei sich nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligt und ihren Luftraum für zivile russische Flugzeuge geöffnet hält – der Kreml hat kein Interesse daran, die Türkei zu verärgern. Für Rojava sieht die Zukunft düster aus.

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Foto: Mustafa Kaya, dpa Recep Tayyip Erdogan bezeichnet das kurdische Autonomieg­ebiet in Syrien als Bedrohung für die Türkei.

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