Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Erdogan plant Angriff auf Kurden
Die Türkei will in das kurdische Gebiet in Syrien einmarschieren. Selbst die USA und Russland können den türkischen Präsidenten wohl nicht aufhalten.
Istanbul Für die einen steht der Name „Rojava“für Selbstbestimmung und Demokratie – für die anderen ist der Begriff gleichbedeutend mit Terrorismus. Rojava – auf Kurdisch: der Westen – ist das Autonomiegebiet, das sich die Kurden in Syrien zwischen dem Ostufer des Euphrat und der Grenze zum Irak aufgebaut haben. Die syrischen Kurden konnten sich wegen ihrer Herrschaft über die Gegend und ihres Bündnisses mit den USA bis vor kurzem als Gewinner des syrischen Bürgerkrieges sehen. Doch jetzt müssen sie mit einem neuen Einmarsch des nördlichen Nachbarn Türkei rechnen.
Die Macht in Rojava liegt bei den Syrischen Demokratischen Streitkräften, einem Zusammenschluss verschiedener Milizen, von denen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) die stärkste Gruppe bilden. Sie sind der militärische Arm der Demokratischen Unionspartei (PYD), der mächtigsten Kurdengruppe in der Gegend. PYD und YPG wiederum sind syrische Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, die seit 1984 gegen Ankara kämpft und international als Terrororganisation eingestuft wird. Die Türkei betrachtet die politische und militärische Machtstellung der Kurden in Syrien deshalb als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit.
Rückblick: Für die rund zwei Millionen Kurden in Syrien brachte der Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 2011 die Chance, sich vom Joch des Regimes in Damaskus zu befreien. Die syrische Regierung zog Truppen aus den kurdischen Gebieten ab, um sie in anderen Landesteilen gegen Rebellen aufzubieten. Als kurz darauf die Terrormiliz Islamischer Staat ihren Siegeszug im Nordosten Syriens begann, verbündeten sich die Kurden mit den USA gegen die Islamisten. In der Stadt Kobani an der Grenze zur Türkei gelang es Kurden und Us-kampfjets 2015, den IS zu besiegen. Das war die Wende im Kampf gegen die Dschihadisten.
Die Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) mit ihren rund 100.000 Kämpfern bildeten in den folgenden Jahren die Bodentruppen der Us-geführten Allianz gegen den IS. Die Kurden wurden damit zu „unersetzlichen Partnern“Amerikas, wie Us-präsident Joe Biden sagt. Heute bewachen sie Gefangenenlager für tausende Is-kämpfer. Zudem gibt es weiterhin Gefechte. Die USA übernahmen für den Kampf gegen den IS nach 2015 die Lufthoheit in allen syrischen Gebieten östlich des Euphrat und halten bis heute daran fest; westlich des Stromes beherrschen russische Militärmaschinen den Himmel. Unter dem Schutzschild der Amerikaner konnten die Kurden entlang der Grenze zur Türkei eine Selbstverwaltungszone errichten: Rojava.
Glaubt man der PYD, ist Rojava ein unvergleichliches Demokratieexperiment: lokale Selbstverwaltung, kulturelle und politische Diversität, Gleichheit von Mann und Frau, Schulunterricht in kurdischer Sprache, Umweltschutz. Die Wirklichkeit sieht anders aus, sagen Kritiker: In Rojava werde Widerstand gegen die kurdische Vorherrschaft unterdrückt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch registrierte schon 2014 in den Machtbereichen der PYD mehrere Morde und willkürliche Verhaftungen. Nach Angaben von nicht-kurdischen Oppositionsgruppen in Syrien werden Journalisten und Lehrer verhaftet, die nicht auf der Linie der PYD liegen. Den Kurden wird auch vorgeworfen, andere Volksgruppen wie Araber und Christen zu benachteiligen. Aus Sicht der Türkei ist Rojava nur eine Frontveranstaltung der PKK. Ankara sagt, die Terrorgruppe habe ihren Einfluss von ihrem Hauptquartier im Nordirak aus auf syrisches Gebiet ausgedehnt. Präsident Recep Tayyip Erdogan nennt Rojava deshalb einen „Terror-korridor“. Seit 2016 hat er drei Mal türkische Truppen nach Syrien geschickt, um die YPG aus dem Grenzgebiet zu vertreiben. Langfristiges Ziel ist die Schaffung eines 30 Kilometer tief auf syrisches Gebiet reichenden „Sicherheitsstreifens“bis zur irakischen Grenze im Osten. In diesem Gebiet will Erdogan rund eine Million syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln. Er kündigte vor wenigen Wochen eine neue Militärintervention an. Erste Gefechte zwischen Türkei-treuen syrischen Milizen und der YPG hat es bereits gegeben. Die Kurden versuchen, die internationale Gemeinschaft gegen den erwarteten Einmarsch zu mobilisieren: Wenn die Türkei ihre Truppen schicke, müssten sich die SDF auf die Abwehr der Invasoren konzentrieren und Truppen vom Kampf gegen den IS im Osten von Syrien abziehen, sagen Sdf-sprecher. Tausende Is-kämpfer könnten dann aus Gefangenenlagern entkommen. Die Gefahr durch den IS in Syrien ist tatsächlich noch nicht gebannt: Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte töteten die Extremisten in den vergangenen Tagen fast 30 syrische Regierungssoldaten.
Die USA fordern die Türkei deshalb auf, den geplanten Einmarsch abzublasen. Auch Russland ist gegen eine neue türkische Intervention. Der letzte türkische Einmarsch endete 2019 mit einer Vereinbarung zwischen Erdogan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin,
Die USA fordern, die Pläne abzublasen
die unter anderem gemeinsame russisch-türkische Patrouillen in einigen Gegenden von Ost-syrien einrichtete. Dass Erdogan auf die Warnungen hören wird, ist unwahrscheinlich. Der türkische Präsident braucht ein Jahr vor den nächsten Wahlen dringend einen Erfolg, der die Wähler über die Wirtschaftskrise im Land hinwegtröstet.
Die früheren Syrien-interventionen hatten Erdogan geholfen, nationalistische Wähler zu gewinnen. Kritik aus den USA an dem Einmarschplan kommt in Ankara nicht gut an. Seit Jahren beschwert sich die Türkei über die Us-unterstützung für die YPG. Der amerikanische Nato-partner arbeite mit einer Terrororganisation zusammen, sagt Erdogan – ohne Zugeständnisse Washingtons dürfte er kaum bereit sein, auf den Einmarsch zu verzichten. Auch die Einwände aus Russland dürften nicht genügen, um den türkischen Präsidenten umzustimmen. Der Kreml schätzt Erdogans neutrale Position im Ukraine-krieg, weil die Türkei sich nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligt und ihren Luftraum für zivile russische Flugzeuge geöffnet hält – der Kreml hat kein Interesse daran, die Türkei zu verärgern. Für Rojava sieht die Zukunft düster aus.