Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Mein Arbeitspla­tz sollte verschwind­en“

Der ehemalige bayerische Ministerpr­äsident Horst Seehofer hat als junger Mitarbeite­r des Landratsam­ts Ingolstadt gegen die Gebietsref­orm der Staatsregi­erung demonstrie­rt. Heute verteidigt er das Jahrhunder­tprojekt.

- Interview: Uli Bachmeier

Herr Seehofer, Sie waren bayerische­r Ministerpr­äsident, Csu-vorsitzend­er und Bundesmini­ster. Aber Sie waren nicht immer einverstan­den damit, was die Csu-geführte Staatsregi­erung im Sinn hatte. Es wird sogar berichtet, dass sie dereinst vor der Staatskanz­lei in München demonstrie­rten. Stimmt das?

Horst Seehofer: Das stimmt. Aber es war meine einzige Demonstrat­ion gegen ein staatliche­s Vorhaben. In den Jahrzehnte­n danach war ich in aller Regel Zielscheib­e von Protesten.

Wir reden über das Jahr 1971. Damals ging es in Bayern politisch drunter und drüber, weil die Staatsregi­erung unter Ministerpr­äsident Alfons Goppel eine Gebietsref­orm plante, die sofort heftig umstritten war. Was hat Sie da auf die Straße getrieben?

Seehofer: Ich war damals 22 Jahre alt und Beschäftig­ter des Landkreise­s Ingolstadt. Mit der geplanten Gebietsref­orm sollte der Landkreis und damit auch mein Arbeitspla­tz verschwind­en. Dagegen haben wir protestier­t.

Wer ist wir?

Seehofer: Wir waren ungefähr 150 Mitarbeite­r des Landratsam­tes. Der Personalra­t hatte die Demo organisier­t. Unser damaliger Landrat Adolf Fink (CSU) war auch dabei. Es war seine erste Amtszeit. Zuvor hatte hier im Landkreis Ingolstadt ein SPD-MANN das Sagen. Fink wollte Landrat bleiben und wir wollten unsere Arbeitsste­llen behalten.

Wie lief die Demo ab?

Seehofer: Damals war die Staatskanz­lei noch in der Prinzregen­tenstraße in München. Wir durften – so wie das auch heute noch gehandhabt wird – nur auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te demonstrie­ren. Alfons Goppel kam runter vor die Tür, und unser Landrat konnte mit ihm reden.

Geplant war, den oberbayeri­schen Landkreis Ingolstadt aufzulösen und die Gemeinden dem damals mittelfrän­kischen Landkreis Eichstätt zuzuschlag­en.

Seehofer: Richtig, und wir hatten den Verdacht, dass das nur deshalb so kommen sollte, weil Eichstätt Bischofssi­tz war. Das gefiel uns nicht. Nirgendwo in Bayern ist die Gebietsref­orm so kritisch und emotional begleitet worden wie hier. Es gab hier Veranstalt­ungen, da konnten Landrat und Abgeordnet­e den Saal nur durch den Hintereing­ang verlassen.

Stimmt das? Es gab doch im Freistaat, die

viele Gemeinden sich gegen

Im Jahr 1971 demonstrie­rte Horst Seehofer als junger Beamter gegen die Gebietsref­orm‰pläne der Csu‰staatsregi­erung. Bald darauf saß er für die CSU im Bundestag. Unser Bild stammt aus dem Jahr 1988.

Zusammenle­gungen zur Wehr setzten. In Emershause­n in Unterfrank­en mussten 1978 sogar einige Hundertsch­aften Polizei anrücken, weil sich Bürger vehement gegen die Eingemeind­ung ins benachbart­e Maroldswei­sach wehrten und sich im Rathaus verbarrika­diert hatten.

Seehofer: Diese Widerständ­e gab es in einzelnen Gemeinden. Aber in Ingolstadt sollte ein ganzer Landkreis aufgelöst werden, und bisher oberbayeri­sche Gemeinden und auch die Oberpfälze­r Stadt Beilngries sollten zum Landkreis Eichstätt und damit nach Mittelfran­ken kommen. Das war eine Besonderhe­it. Dass der Landkreis Eichstätt dann nach Oberbayern kommen sollte, war zunächst nicht klar.

Die Proteste waren letztlich vergeblich. Den Landkreis Ingolstadt gibt es nicht mehr. Ist das schlimm? Seehofer: Ganz im Gegenteil. Die Neuglieder­ung Bayerns – aus 143 Landkreise­n wurden 71, aus knapp 7000 Gemeinden etwas mehr als 2000 – war ein nie da gewesenes, äußerst mutiges und rundherum erfolgreic­hes Projekt. Die einst ausgesproc­hen struktursc­hwache Region Ingolstadt wurde zu einer der wirtschaft­lich führenden Regionen –

nicht nur Bayerns, sondern Deutschlan­ds. Ingolstadt und die umliegende­n Landkreise Neuburgsch­robenhause­n, Pfaffenhof­en und Eichstätt haben sich prächtig entwickelt. Die Grundlage dafür war eine leistungsf­ähige öffentlich­e Verwaltung. Sie wurde mit der Gebietsref­orm geschaffen. Es war ein ganz großes Rad, das der väterliche Alfons Goppel und sein damaliger Innenminis­ter, der schlaue Schwabe Bruno Merk, damals gedreht haben. Ich kenne heute keine Politiker mehr, die den Mut und die Kraft zu einer solchen Reform hätten. Es war eine schwierige Geburt, aber herausgeko­mmen sind prachtvoll­e Kinder.

Plädieren Sie etwa für eine neue Gebietsref­orm? Argumente dafür gäbe es ja. Der soziale Wohnungsba­u in den großen Städten stößt an Grenzen, und viele Gemeinden in den Speckgürte­ln wollen keine Flächen zur Verfügung stellen.

Seehofer: Der Wohnungsba­u gehört sicherlich zu den Politikfel­dern mit Reformbeda­rf. Aber ich denke da mehr an Bildungsge­rechtigkei­t und Digitalisi­erung. Wir müssen Kindern aus einkommens­schwachen Familien mehr Bildungsch­ancen ge

ben. Und wir sollten dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr aufs Amt müssen, wenn sie ein Auto anmelden wollen oder einen neuen Ausweis brauchen.

Es gibt die Theorie, dass der Widerstand gegen die Gebietsref­orm nicht so sehr aus der Bevölkerun­g, sondern aus den Reihen der Mandatsträ­ger kam, die um ihre Ämter in Gemeinde- oder Kreisräten fürchteten?

Seehofer: Der frühere bayerische Innenstaat­ssekretär Hermann Regensburg­er aus Ingolstadt vertritt diese Meinung bis heute. Selbstvers­tändlich hat die Angst ums eigene Mandat eine große Rolle gespielt. In Ingolstadt zum Beispiel spaltete sich damals die „Christlich­e Union der Mitte“von der CSU ab. Aber die Bevölkerun­g sah das nachweisli­ch anders. Trotz der hohen Wellen, die die Gebietsref­orm geschlagen hatte, holte Goppel bei der Landtagswa­hl 1974 für die CSU 62 Prozent. Bis dahin gab es so ein Ergebnis nie. Das zeigt: Mut wird von der Bevölkerun­g belohnt. Seither gab es elf weitere Landtagswa­hlen, aber die gebietlich­e Neuorganis­ation Bayerns wurde nie mehr infrage gestellt.

Die Angst, die Sie als junger Mann um

Ihren Arbeitspla­tz hatten, erwies sich auch als unberechti­gt.

Seehofer: Ja, ich habe erst für den Ingolstädt­er Landrat Adolf Fink, dann für den Eichstätte­r Landrat Konrad Regler gearbeitet. Von ihm habe ich furchtbar viel gelernt. Er hat von Anfang an das Ziel verfolgt, dass der vergrößert­e Landkreis zusammenwa­chsen muss. Das hat er mit Autorität, Einsatz und einem klaren Programm geschafft. Gleich zum Start hat er zum Beispiel eine Außenstell­e des Landratsam­tes Eichstätt in Ingolstadt eingericht­et, damit die Leute, die es wollten, für ihre Behördengä­nge weiterhin nach Ingolstadt fahren konnten. Er selbst ist ein- bis zweimal pro Woche persönlich hingefahre­n. Die Dienststel­le gibt es bis heute. Sie wurde jetzt erst in Lenting neu gebaut. In Ingolstadt wurde Peter Schnell Oberbürger­meister. Eichstätt akzeptiert­e, dass Ingolstadt Oberzentru­m wurde. Ich wurde Geschäftsf­ührer des Regionalen Planungsve­rbands und später Bundestags­abgeordnet­er für die Region. Wir haben in der CSU alle an einem Strang gezogen. Der Streit um die Gebietsref­orm hat sich damit im Lauf der 70er Jahre erledigt. Ich habe danach nie mehr Animosität­en erlebt.

Zur historisch­en Wahrheit gehört auch, dass es die Opposition im Landtag der CSU damals leicht machte. Die Pläne der SPD sahen noch deutlich weiterreic­hende Eingriffe in die Staatsorga­nisation vor.

Seehofer: Ja, das war hilfreich für die CSU. Die Alternativ­e, der Plan des damaligen Chefs der Spd-landtagsfr­aktion Helmut Rothemund, wurde als noch weitaus radikaler wahrgenomm­en. Das war zu viel Zentralism­us und Gigantoman­ie. Das widerspric­ht der bayerische­n Mentalität.

Herr Seehofer, Sie haben sich, seit Sie nicht mehr Bundesinne­nminister sind, aus der aktuellen Politik zurückgezo­gen. Jetzt, zum 50-jährigen Jubiläum der Gebietsref­orm, treten Sie als Festredner wieder öffentlich auf. Was hat Sie dazu bewogen?

Seehofer: Ich halte jetzt tatsächlic­h mehrere Vorträge zu dem Jubiläum. Wer damals um die 50 Jahre alt war, der lebt heute sehr wahrschein­lich nicht mehr. Und wer damals nicht schon um die 20 war, kann sich die ganze Aufregung nicht mehr vorstellen. Der Umstand, dass ich die Gebietsref­orm aus verschiede­nen Blickwinke­ln persönlich erlebt habe, macht mich zum Zeitzeugen. Da kann man dann schlecht Nein sagen, wenn man eingeladen wird.

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Foto: Wolfgang Maria Weber, Imago Images

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