Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Sehnsucht nach frischen Bildern
Die Comic-zeichnerin Catherine Meurisse musste irgendwann in Japan landen – um mit einem Werk humorvoll an berühmte französischen Künstlerkollegen anzuknüpfen, die dem Holzschnitt verfallen waren.
Paris/kyoto Sie stolpert immer noch suchend durch die Welt. Und das voller Selbstironie, ständig offen für Neues, Unbekanntes und auf keinen Fall moralisierend. Das ist das Sympathische an Catherine Meurisse, die viel lieber kleine entlarvende Stiche setzt und sowieso durch einen tiefgründigen, vielschichtigen Humor überzeugt.
Da ist eben die versierte Zeichnerin, die beim Satire-magazin „Charlie Hebdo“meistens ein bisschen ätzender sein musste, als es ihr eigentlich entsprach. Und da ist eine Frau, die sich nach dem unfassbaren Anschlag auf die Redaktion im Januar 2015 bis heute vom Tod der Freunde und Kollegen traumatisch getroffen fühlt.
Meurisses Streifzüge durch Museen, Landschaften oder durch die Kulturgeschichte sind deshalb immer auch Versuche, dem Dasein und speziell ihrem eigenen, europäisch geprägten auf den Grund zu gehen. Und nun ist die Französin am anderen Ende der Welt in Japan gelandet. Nicht zum Abklappern von Palästen, Gärten oder Galerien, und
Aufgeschlagen: Seite 29 im Buch „Nami und das Meer“. Meurisse hat auch schon für das Satiremagazin „Charlie Hebdo“zum Stift gegriffen.
glücklicherweise auch nicht, um sich an Mangas zu probieren. Vielmehr wollte sich die 42-Jährige einfach fallen lassen, der eigenen Intuition folgen und ihr „viel zu westliches
inneres Bilderarchiv auffrischen“. Das lässt sie ihr Alter Ego gleich zu Beginn der Graphic Novel „Nami und das Meer“sagen, um dann einigermaßen orientierungslos durch fantastische Landschaften zu marschieren.
Denn es geht in diesem „kleinen philosophischen Märchen“nicht zuletzt auch um das Naturverständnis der sehr verschiedenen Kulturen, um das Verhältnis zu Land und Wasser und schließlich um das Leben mit Erdbeben und Flutwellen. Wobei die unverdrossene Entdeckerin ihren Malkasten dabei hat, um dann doch nichts aufs Papier zu bringen. Aber da trifft sie auf einen japanischen Leidensgenossen, der ein berühmter Künstler wäre, würde er denn auf das richtige Motiv stoßen, seine Malhemmung überwinden. Dabei spielt die literaturaffine Meurisse auf den großen Romancier und Haiku-dichter Natsume Soseki an, der just in seinem bekannten „Graskissenbuch“(„Kusamakura“) über einen solchen Maler schreibt und sich mit dem künstlerischen Schaffensprozess auseinandersetzt. Der sei untrennbar mit der Natur verbunden, betont Soseki. Die Natur sei die allererste Inspirationsquelle, und wenn man in ihre Sphäre trete, würde jeder Mensch ein Maler. Das ist Beuys auf Japanisch und doch vollkommen anders.
Aber die einerseits hingetrimmten Ziergärten und auf der anderen Seite das Leben mit den Naturgewalten ist auch schwer zusammenzubringen – und dennoch kein Widerspruch. Da mag stellenweise ein klischeehaftes Japanbild aufscheinen, transportiert durch unzählige Farbholzschnitte der großen Meister von Utagawa Hiroshige und Katsushika
In „Nami und das Meer“geht es um das Verhältnis der Menschen zu Land und Wasser, das Leben mit Erdbeben und Flutwellen
Hokusai mit seiner legendär gewordenen Welle bis zu Kawase Hasui, den Meurisse in einer Tour zitiert. Allerdings schaut es weit draußen, fern der durchgetaktet geschäftigen Monsterstädte ja tatsächlich so aus. Dabei findet Meurisse auf den Spuren Sosekis in Kyoto zu betörend schönen Aquarellen und Zeichnungen, für die allein sich diese Graphic Novel lohnt.
„Nami und das Meer“führt in der latenten Beschäftigung mit dem „Graskissenbuch“auf die Alte Welt und die Kunst des späten 19. Jahrhunderts zurück. Mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass Meurisse die Bilder eben nicht bloß überm Schreibtisch hängen hat, wie etwa der von Édouard Manet gemalte Émile Zola. Dieses nonchalante Einweben der europäischen und besonders der französischen Malereigeschichte ist eine der Spezialitäten der Zeichnerin, deren „Olympia in Love“über die Entwicklung des Impressionismus zu den originellsten Kunst-comics überhaupt zählt.
Natürlich weiß der verzweifelte japanische Künstler mit seiner dusselig schrägen Malblockade von der
blumenübersäten „Ophelia“im Flussgrab und um die wenig romantische Entstehung dieses Gemäldes: John Everett Millais legte seine Gattin kurzerhand bekleidet in die Badewanne; draußen am Bach hatte es einfach zu viele Mücken.
Dem Künstler – weder bei Soseki noch im Comic von Meurisse – hilft dieses „Konzeptionieren“dennoch nicht weiter, denn im Gegensatz zu Millais drängt es ihn wie die Pleinair-maler von Barbizon in die Natur. Und selbst dieser Schritt reicht noch lange nicht aus, um in einen Zustand zu gleiten, der ihm das Schaffen eines Kunstwerks ermöglicht: In der Meditation muss er eins werden mit Wind und Wetter, mit den Blättern und Wassertropfen, er muss sein Bewusstsein weiten und sich in ihm auflösen. Nur gut, dass die Meurisse nach all den Erkenntniswanderungen letztlich doch wieder bei sich selbst angekommen ist und die mit heiligem Ernst gepflegten Seltsamkeiten durch ihren anarchischen Humor untergräbt.
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Nami und das Meer.
128 S., 22 ¤
Carlsen Verlag,