Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wimbledon, einmal ganz anders

Das Turnier in London zählt zu den aufregends­ten des Jahres. Weil es ebenso traditione­ll wie besonders ist. In diesem Sommer aber ist vieles anders. So fehlen bei den Männern die derzeit besten Spieler der Welt.

- VON MARCO SCHEINHOF

London Engländer lieben ihre Traditione­n. Ihren Tee, den es am besten zur Nachmittag­szeit einzunehme­n gilt. Ihr herzhaftes Frühstück, das alleine schon beim Anblick den Cholesteri­nspiegel in die Höhe treibt. Nicht jeder empfindet reichlich Speck, Bohnen und Würstchen als idealen Start in einen arbeitsrei­chen Tag. Und dann erst die Royals. Die königliche Familie hat keine Einflussmö­glichkeite­n auf die aktuelle Politik, sie ist vielmehr zur Neutralitä­t verpflicht­et. Ihr Schicksal aber bewegt die Menschen auf der Insel. Das Thronjubil­äum von Queen Elizabeth wurde vor kurzem größtmögli­ch gefeiert, die Flucht in die USA von Prinz Harry mitsamt den Verwicklun­gen innerhalb der Familie genauesten­s beäugt. Man will schließlic­h auf dem Laufenden sein und beim lauwarmen Feierabend­bier an der Pub-theke nicht ahnungslos herumstehe­n. Und wenn andernorts viele Jahre lang Rasenfläch­en vornehmlic­h zum Fußballspi­elen genutzt wurden, haben die Engländer in der Mitte des Feldes ein Netz gespannt, Linien gezogen und einfach mal Tennis gespielt.

Wimbledon ist zum spektakulä­rsten, bekanntest­en und einem der am besten dotierten Tennisturn­iere der Welt geworden. Auch weil selbst hier den britischen Gastgebern ihre Traditione­n wichtig sind wie ein anständige­r Yorkshire Pudding zu einem Stück Roastbeef. Bunt kann jeder. In Wimbledon müssen die Spielerinn­en und Spieler weiß tragen – die klassische Farbe des Tennisspor­ts, die auch hilfreich dabei ist, unschöne Schweißfle­cken auf der Kleidung nicht so sichtbar werden zu lassen. Geht es auf den Centre Court, ist eine Verbeugung oder ein Knicks vor der königliche­n Loge Pflicht. Wer das Erlebnis Wimbledon ganzheitli­ch genießen möchte, muss sich Erdbeeren mit Sahne bestellen. Für gut drei Euro gibt es zehn Erdbeeren mit einem Klacks Sahne. Braucht es nicht unbedingt, gehört aber dazu. Das Problem: In diesem Jahr fühlt sich Wimbledon an wie Erdbeeren ohne Sahne. Auch irgendwie gut, aber anders. Nicht so glamourös. Viele Stars fehlen.

Wimbledon ist magisch. Wimbledon ist in etwa wie der Wm-titel im Fußball. Wer hier im Südwesten Londons gewinnt, kann in seinem

Novak Djokovic führt in diesem Jahr die Setzliste in Wimbledon an. Vieles ist diesmal im Südwesten Londons anders. So wird zum Beispiel auch am ersten Sonntag der zwei Turnierwoc­hen gespielt. Sonst war an diesem Tag immer pausiert worden.

Tennislebe­n fast alles falsch machen und bleibt dennoch eine Legende. Deutschlan­ds Tennisheld Boris Becker wurde hier geboren, als er überrasche­nd 1985 als

Teenager triumphier­te. Andere Spieler mühten sich dagegen ihre gesamte Tenniskarr­iere lang vergeblich. Ivan Lendl zum Beispiel, der trotz aller Versuche und Ideen einfach nicht in Wimbledon gewann. Ein Makel. Wimbledon ist einzigarti­g. Wimbledon hat eigene Gesetze und macht sich wenige Gedanken darum, was andere so empfinden. Oder wie es Alexander Zverev vor einigen Wochen in München ausdrückte: „Wimbledon macht, was sie wollen.“Da ging es um den Ausschluss

russischer und belarussis­cher Spielerinn­en und Spieler. Wegen des Angriffskr­iegs in der Ukraine dürfen sie in Wimbledon nicht antreten. So wird zum Beispiel Daniil Medvedev fehlen. Der Russe ist die Nummer eins der Welt. Bei anderen Turnieren darf er mitspielen, zwar nicht unter russischer Flagge, er ist aber dabei. In Wimbledon fehlt er. Zverev findet das nicht gut. Der Deutsche ist die Nummer zwei der Tenniswelt. Auch er wird in Wimbledon nicht spielen. Zverev hatte sich in Paris bei den French Open schwer verletzt. Der 25-Jährige war im Halbfinale gegen Rafael Nadal umgeknickt und hatte sich drei seitliche Bänder im rechten Sprunggele­nk gerissen. Nummer eins nicht dabei, Nummer zwei nicht, Roger Federer ohnehin nicht, Rafael Nadal nach wie vor mit Fuß- und Anpassungs­problemen an den Rasen – es gab schon deutlich bessere Teilnehmer­weiteren

felder auf dem heiligen Rasen, dessen Pflege zeit- und kosteninte­nsiv ist. Kein Halm darf zu lang sein, kein Loch den Ball verspringe­n lassen. Unebenheit­en sind so gerne gesehen Weil die derzeit Besten der Welt fehlen, haben sich die Männerorga­nisation ATP ebenso wie die Frauenvere­inigung WTA entschiede­n, keine Punkte für die Weltrangli­ste zu vergeben. Es ist auch eine Reaktion auf den Ausschluss russischer und belarussis­cher Athletinne­n und Athleten. Bei den Männern trägt nun Novak Djokovic die Bürde des Favoriten, was für ihn nicht ungewohnt ist. Bei den Frauen versucht Iga Swiatek, ihre atemberaub­ende wie

Maulwürfe im

Untergrund.

Erfolgsser­ie fortzusetz­en. Auf Gras aber war die Polin noch nicht so dominant wie auf anderen Belägen. Und Serena Williams kehrt nach einem Jahr Pause zurück. Wimbledon zieht noch immer, es ist ein perfekter Ort für ein Comeback.

Oder für einen Abschied. Philipp Kohlschrei­ber hätte gerne noch einmal ab Montag aufgeschla­gen, wenn Wimbledon in seine 135. Auflage startet. Der Augsburger aber scheiterte in der Qualifikat­ion, wodurch er seine Karriere nicht auf den ganz großen Plätzen beendet, sondern auf den kleinen Courts in Roehampton, wenige Autominute­n von der großen Arena entfernt. Noch einmal wollte Kohlschrei­ber das älteste Turnier der Welt erleben. Die Magie, das Besondere, die Erdbeeren mit Sahne. Auch wenn in diesem Jahr vieles anders ist, Wimbledon bleibt besonders. Eine Faszinatio­n. Einmal hier gewinnen – ein Traum.

Russische Spieler dürfen in Wimbledon nicht antreten

Kein Abschied von Kohlschrei­bers in Wimbledon

 ?? Foto: Steven Paston, dpa ??
Foto: Steven Paston, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany