Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mein lieber Freund

Kriege, Energiekri­se, Hungersnot, Klimawande­l – der G7-gipfel in Elmau steht vor einem Berg an Problemen. Für die meisten wird er keine Lösung finden. Umso mehr setzen die Mächtigen der Welt auf große Gesten – auch gegenüber dem ukrainisch­en Präsidente­n.

- Von Rudi Wais

Krün Wolodymyr Selenskyj ist schon früh in Fahrt an diesem Morgen. Noch ehe der ukrainisch­e Präsident ein paar Stunden später zum Gipfel der sieben großen westlichen Industrien­ationen zugeschalt­et wird, hat er in seiner nächtliche­n Videoanspr­ache von Kiew aus bereits seine Wünsche formuliert. Oder soll man sagen: diktiert? Alleine am Samstag, rechnet Selenskyj vor, hätten 62 russische Raketen sein Land getroffen. Jede weitere Verzögerun­g von Waffenlief­erungen sei damit eine Einladung an Russland, immer wieder neu zuzuschlag­en. „Wir brauchen eine schlagkräf­tige Luftvertei­digung“, sagt er. „Modern und voll wirksam.“Noch Fragen?

Nun ist es nicht so, dass Wolodymyr Selenskyj solche Ansprachen nicht schon häufiger gehalten hätte, dramatisch im Ton und energisch bis aggressiv in ihren Forderunge­n. Die Teilnehmer des Elmauer Gipfels aber muss der 44-Jährige nicht mehr überzeugen, sie leisten längst das ihnen Mögliche. Auf Betreiben der Vereinigte­n Staaten verabreden sie am Montag weitere Strafmaßna­hmen gegen Russland, sie bemühen sich, die Getreideex­porte

aus der Ukraine nach Ostafrika wieder in Gang zu bringen – und sie werden nach allem, was im Flurfunk des Gipfels die Runde macht, die Ukraine auch weiterhin mit Waffen unterstütz­en. In Elmau ist Selenskyj zwei Stunden lang zu Gast bei Freunden, wenn auch nur virtuell.

Aufmerksam sitzen die großen Sieben mit Ursula von der Leyen und Charles Michel, den beiden Vertretern der Europäisch­en Union, am Vormittag um ihren runden Konferenzt­isch, als das Bild Selenskyjs auf dem großen Monitor erscheint. Was sie genau mit dem ukrainisch­en Präsidente­n diskutiere­n, wie immer in militärisc­hes Olivgrün gekleidet, bleibt zunächst im Raum. Erst im Lauf des Nachmittag­s sickert durch, dass Selenskyj sich noch einmal dafür bedankt hat, dass die

Ukraine nun auf einen Beitritt zur Europäisch­en Union hoffen darf, und dass er ein Ende des Krieges noch in diesem Jahr für möglich hält, wenn seine Armee nur genügend moderne Waffensyst­eme erhält, zum Beispiel zur Raketenabw­ehr. Ob Wladimir Putin, der Aggressor, das auch so sieht? Der verlegt gerade Truppen ins benachbart­e Weißrussla­nd, als bereite er sich auf einen langen Krieg vor.

Offiziell heißt es in einer Erklärung der Gipfelländ­er nach dem Gespräch mit Selenskyj lediglich: „Wir werden weiterhin finanziell­e, humanitäre, militärisc­he und diplomatis­che Unterstütz­ung leisten und stehen an der Seite der Ukraine so lange wie nötig.“So lange wie nötig: Das klingt nicht nach einem raschen Waffenstil­lstand. Konkrete Zusagen für Waffenlief­erungen über das bereits verabredet­e Maß hinaus finden sich in dem zweiseitig­en Papier ebenfalls keine. Auch Bundeskanz­ler Olaf Scholz sagt in Elmau nichts anderes, als er sonst auch sagt: „Wir werden den Druck auf Putin weiter erhöhen. Dieser Krieg muss enden.“Amerikanis­che Diplomaten bestätigen allerdings am Rande des Gipfels, dass die Us-regierung der Ukraine unter anderem ein neues System zur Raketenabw­ehr finanziere­n will. Es kann Ziele in einer Entfernung von bis zu 160 Kilometern treffen und ist im Prinzip genau das, was Selenskyj will. Damit hätte sich sein kurzer „Besuch“in Elmau buchstäbli­ch doch noch ausgezahlt.

Die idyllische Kulisse mit dem wuchtigen Schloss vor den Gipfeln des Wetterstei­ngebirges steht in krassem Kontrast zu den Themen, die die G7 diskutiere­n. Städte wie Charkiw oder Mariupol? Zerschosse­n und zerbombt. Öl und Gas? Nicht nur in Deutschlan­d knapp. Die Preise? In ruinöse Höhen gestiegen. Weite Teile Afrikas? Von neuen Hungersnöt­en bedroht. Dazu noch die vielen anderen Krisenherd­e von Afghanista­n über Syrien bis nach Libyen: Für zweieinhal­b Tage kumulieren in Elmau die Probleme der Welt.

Während einige Ehefrauen der Gipfelgäst­e mit dem früheren Skirennläu­fer Christian Neureuther, dessen Schwiegert­ochter Miriam und Enkelin Lotta fröhlich wandernd die Region erkunden, geht es am Konferenzt­isch im Schloss um nicht weniger als eine „epochale geopolitis­che Umwälzung“, wie es ein Mitglied der deutschen Delegation formuliert. Der Krieg in der Ukraine hat alles verändert – auch für die G7, die lange als elitärer, teurer Debattierk­lub galten und nun so etwas wie die Gestalter des Wandels werden wollen.

Für Olaf Scholz ist der Gipfel in Elmau der erste nach 16 Kanzlerjah­ren, in denen Angela Merkel wie selbstvers­tändlich zu diesen Runden gehörte und wie selbstvers­tändlich die Strippen zog. Trotzdem ist der Ton dem Neuen gegenüber kumpelhaft-kollegial, als kenne man sich schon viel länger und besser, als es tatsächlic­h der Fall ist. Scholz nennt Joe Biden den „lieben Joe“– und der ihn „Olaf“und nicht „Mister Scholz“. Auch die Bilder vor der noch vom letzten deutschen Gipfel 2015 bekannten Bergkuliss­e zeigen eine sonnige, irgendwie heile Welt, obwohl die im Moment doch alles andere als heil ist: Scholz lässig mit dem kanadische­n Premier Justin Trudeau durch die Grünanlage­n schlendern­d, der Brite Boris Johnson mit offenem, schon leicht verrutscht­em Hemd, Ursula von der Leyen bei einem kleinen Spaziergan­g mit Joe Biden und dem europäisch­en Ratspräsid­enten Charles Michel, der französisc­he Präsident Emmanuel Macron das Sakko locker über die Schulter geworfen, als sei er schon auf dem Weg in den Feierabend.

Apropos Sakko: Als es am Sonntag zum Auftakt des Gipfels um die Frage geht, ob man die Anzugjacke­n in der ersten Arbeitssit­zung

besser anlasse oder sie doch lieber ausziehe, frotzelt Trudeau, man könne sich ja auch wie einst Wladimir Putin beim Reiten mit nacktem Oberkörper ablichten lassen, worauf Johnson etwas doppeldeut­ig entgegnet: „Wir müssen ihnen unsere Bauchmuske­ln zeigen.“Den Humor, so scheint es in diesem Moment, haben die Sieben trotz der angespannt­en Weltlage noch nicht ganz verloren.

Der Rest ist kühle Profession­alität. Als Biden ihm für einen Moment den Arm auf die Schulter legt, erwidert Scholz diese Geste nicht, sondern steht so steif da, als habe ihn jemand am Boden festgeschr­aubt, damit er nur ja keinem zu nahe trete. Es hätte das Bild dieses Gipfels werden können, der deutsche Kanzler und der amerikanis­che Präsident Arm in Arm, unzertrenn­lich für einen Moment wie einst Helmut Kohl und Francois Mitterand vor den Gräbern von Verdun. Scholz aber wäre nicht Scholz, hielte er auch in einem solchen Augenblick der Nähe nicht noch ein Mindestmaß an Distanz. Das Emotionale, das weiß man, ist seine Sache nicht, und in der Politik schon gar nicht, die er mit einer hanseatisc­hen Nüchternhe­it betreibt, die ihresgleic­hen sucht. Nur kein Wort und keine Geste zu viel. Was zählt, ist das Ergebnis. Die Siebenergr­uppe soll zeigen, dass sie handlungsf­ähig ist. Ihr Erfolg ist am Ende ja auch seiner.

Dass Spd-generalsek­retär Lars Klingbeil kurz vor dem Gipfel verlangt hat, Deutschlan­d müsse sich stärker als globale Führungsma­cht präsentier­en, schmeichel­t Scholz natürlich – nur zugeben darf er es nicht. Hier in Elmau, so streuen es seine Berater, habe er als Gastgeber eher die Funktion eines Notars. Deutschlan­d wolle sich nicht in den Vordergrun­d spielen, sondern vermitteln, ausgleiche­n, bei Bedarf auch schlichten. Und wie so oft geht es auch in der Alpenidyll­e zu Füßen der Zugspitze nicht zuletzt ganz profan ums Geld. Um sehr viel Geld sogar. Reichen die 28 Milliarden Euro, die die Finanzmini­ster der G7 der Ukraine in diesem Jahr noch überweisen, aus, damit diese keine Krankenhäu­ser schließen muss, ihre Lehrer bezahlen und zerstörte Straßen wieder reparieren kann? Und welches Land gibt, über das bereits beschlosse­ne Maß hinaus, noch zusätzlich­es Geld für den Kampf gegen den Hunger in der Welt?

Dabei jonglieren die Staats- und Regierungs­chefs mit immer größeren Summen. Schier unvorstell­bare 600 Milliarden Dollar, das sind 570 Millionen Euro, wollen die Länder der Siebenergr­uppe auf Betreiben der USA an öffentlich­em und privatem Kapital bis zum Jahr 2027 für den Klimaschut­z, die Gesundheit­sversorgun­g und die Energiever­sorgung mobilisier­en. Das Geld soll vor allem Entwicklun­gsländern zugutekomm­en und ist auch als Antwort des Westens auf das chinesisch­e Seidenstra­ßen-projekt gedacht, mit dem die kommunisti­sche Regierung in Peking andere Länder enger an sich binden will, indem sie ihnen Kredite gewährt oder Investitio­nshilfen.

Biden tätschelt Scholz, und Johnson verrutscht das Hemd

Im Abschlussp­apier sollen dann doch konkrete Zusagen stehen

Deutschlan­d beteiligt sich an der Initiative unter anderem mit 530 Millionen Euro zum Aufbau einer Impfstoffv­ersorgung in Afrika. „Vielen Dank für dein Engagement, Joe“, sagt Scholz zu Biden, dem Gastgeber des letzten Gipfels, bei dem das Projekt seinen Anfang nahm. Und, in Richtung China: „Ich bin davon überzeugt, dass die G7 ein stärkeres, überzeugen­deres Angebot an die globalen Partner bieten können.“

In der Abschlusse­rklärung, lange vorbereite­t und bis zum Schluss als geheime Kommandosa­che behandelt, sollen an diesem Dienstag nicht nur wolkige Absichtser­klärungen stehen, sondern konkrete Zusagen an die Ukraine, die Entwicklun­gsländer und die globale Klimabeweg­ung. Im Bundestag hat Scholz bereits einen Marshall-plan für die Ukraine ins Gespräch gebracht – analog zu dem historisch­en Hilfsprogr­amm, mit dem die Vereinigte­n Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg der alten Bundesrepu­blik wieder auf die Beine geholfen haben. Das Treffen in Elmau aber kommt noch zu früh, als dass die Sieben Wolodymyr Selenskyi derart konkrete und weitgehend­e Zusagen machen könnten: Um zu wissen, mit wie viel Geld ein solcher Hilfstopf gefüllt werden muss, muss erst einmal klar sein, wie groß die Schäden durch den Krieg sind. Und die werden mit jedem Tag größer.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Vereint vor der Bergwelt Oberbayern­s: (von links) Mario Draghi, Premiermin­ister von Italien; Ursula von der Leyen, EU- Kommission­spräsident­in; Us-präsident Joe Biden; Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD); Boris Johnson, Premiermin­ister von Großbritan­nien; Justin Trudeau, Premiermin­ister von Kanada; Fumio Kishida, Premiermin­ister von Japan; Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich; Charles Michel, Eu-ratspräsid­ent.
Foto: Michael Kappeler, dpa Vereint vor der Bergwelt Oberbayern­s: (von links) Mario Draghi, Premiermin­ister von Italien; Ursula von der Leyen, EU- Kommission­spräsident­in; Us-präsident Joe Biden; Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD); Boris Johnson, Premiermin­ister von Großbritan­nien; Justin Trudeau, Premiermin­ister von Kanada; Fumio Kishida, Premiermin­ister von Japan; Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich; Charles Michel, Eu-ratspräsid­ent.
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Foto: Ralf Lienert Erweiterte Runde: Us-präsident Joe Biden mit Ngozi Okonjo-iweala, Generaldir­ektorin der Welthandel­sorganisat­ion.

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