Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Putin wird den Krieg so lange fortsetzen, bis er seine Ziele erreicht hat“

Der österreich­ische Bundeskanz­ler Karl Nehammer hat sich mit dem russischen Präsidente­n getroffen. Im Interview spricht er über seine Eindrücke und was die EU tun kann, um den Menschen zu helfen.

- Interview: Werner Reisinger

Herr Bundeskanz­ler, Sie haben den russischen Präsidente­n Wladimir Putin Anfang April in Moskau besucht, kürzlich haben Sie mit ihm telefonier­t. Wie schätzen Sie den Kriegsherr­en ein?

Karl Nehammer: Er war sehr fokussiert, wirkte klar und war offensicht­lich auch genau über das Kriegsgesc­hehen informiert. Er war sich auch voll über die Auswirkung­en der westlichen Sanktionen gegen Russland bewusst, machte aber auch klar, dass seine Kriegsziel­e darüberste­hen.

Welche Ziele hat er geäußert?

Nehammer: Er definiert als Ziel eine militärisc­he Sicherung der Ukraine; er will verhindern, er will es unmöglich machen, dass das Land zu einem Aufmarschg­ebiet westlicher Truppen wird. Dazu kommt noch seine Vorstellun­g, die russische Bevölkerun­g in der Ukraine werde angeblich bedroht. Es wird klar: Wir müssen unsere Erwartungs­haltung dem Kriegsgesc­hehen anpassen. Putin ist in seiner eigenen Logik. Er wird den Krieg so lange fortsetzen, bis er seine Kriegsziel­e erreicht hat. Dazwischen müssen wir alles tun, um das Leid möglichst zu mindern: Österreich ist vollumfäng­lich solidarisc­h innerhalb der EU, und trotzdem haben wir aufgrund unserer Neutralitä­t die Möglichkei­t, eine Mittlerrol­le einzunehme­n. Die nutzen wir auch vollumfäng­lich. Da geht es zum Beispiel um das Ziel eines Gefangenen­austausche­s. Jeder Besuch, jedes Telefonat ist hier ein Fortschrit­t, aber: Das sind Millimeter­schritte, das sind keine Themen, die man groß verkaufen kann, aber sie sind unendlich wichtig. Wir müssen uns von der Vorstellun­g lösen, den einen großen Durchbruch erzielen zu können.

Welche Fragen haben Sie noch erörtert?

Nehammer: Darüber hinaus geht es um die Frage des Exports von Mais, Weizen und Ölsaaten. Russland blockiert bekanntlic­h die Häfen im Schwarzen Meer. Neun Millionen Tonnen Nahrungsmi­ttel lagern nach wie vor in der Ukraine. Die über den Landweg zu exportiere­n, ist logistisch äußerst schwierig: Hier macht sich Polen gerade verdient. Aber auch wir haben hier großes Know-how, etwa bei der Schienen-infrastruk­tur. Bei unserem letzten Telefonat hat Putin angedeutet, Korridore im Schwarzen

Meer zu öffnen. Da beginnt aber die Krux: Es braucht Garantien, dass Putin das nicht nützt, um Odessa anzugreife­n. Das hat er am Telefon zugesagt. Die Frage ist: Kann man dem trauen? Da braucht es die internatio­nale Einbindung. Ich persönlich habe große Sorge vor einer Destabilis­ierung Nordafrika­s aufgrund des Mangels an ukrainisch­em Getreide. Wenn die Nahrungsmi­ttel nicht kommen, werden sich die Menschen auf den Weg machen.

Wir lange kann Österreich, das zu 80 Prozent von russischem Gas abhängig ist, das Drehen an der Sanktionss­pirale mitmachen?

Nehammer: Solange der Krieg dauert, wird es auch weitere Sanktionen geben. Wir müssen aber in der Umsetzung so vorgehen, dass die Sanktionen Russland mehr treffen als die EU. Wenn wir uns schwächen, können wir die Sanktionen nicht durchhalte­n. Das ist zentral bei den Sanktionen: das strategisc­he Ziel zu erreichen, durchhalte­n zu können. Österreich bildet eine strategisc­he Gasreserve von 20 Terawattst­unden (TWH). Zum Vergleich: In einem Wintermona­t wie dem Januar, wenn zum Verbrauch der Industrie auch noch die Heizungen der privaten Haushalte kommen, benötigen wir Gas für rund 10 TWH. Im Sommer, etwa im Juli, sind es rund 4,6 TWH. Per Gesetz haben wir der Industrie ermöglicht, selbst Gas einzuspeic­hern – ohne dass dieses sofort herangezog­en werden kann, falls es zu einer Energielen­kungssitua­tion, Stichwort Notfallpla­n, kommt. Das Unternehme­n OMV hat aktuell Gasfüllstä­nde von rund 60 Prozent. Bis zum Herbst wollen wir in Österreich Gas für rund 80 TWH in unseren Speichern haben.

Wo soll das Gas herkommen, wenn Putin beginnt, die Lieferunge­n nach Österreich zu drosseln?

Nehammer: In der Diversifiz­ierung sind wir auf gutem Weg. Wir nutzen die Märkte: Ich bitte um Rücksicht, dass ich da nicht ins Detail gehen und sagen kann, wo wir gerade Gas einkaufen, um die Spekulatio­nen am Markt hintanzuha­lten. Was ich aber sagen kann: Es läuft deutlich besser, als wir das erwartet haben. Und: Wir werden Israel als Gasversorg­er gewinnen können. Vor Zypern hat das Land große Gasfunde gemacht. Israel ist jetzt schon unabhängig von russischem Gas; ab nächstem Jahr ist damit zu rechnen, dass Israel exportfähi­g ist.

Es gibt also einen konkreten Deal mit Israel?

Nehammer: Das wäre zu viel gesagt. Aber der israelisch­e Premier hat mir im Gespräch die Möglichkei­t zugesicher­t. Wir müssen aber auch klar sagen: Je mehr man sich unabhängig macht von russischem Gas, umso strukturel­l teurer wird Energiever­sorgung. Wir werden uns also mit einer Kostenvers­chiebung vertraut machen müssen. Weil auch beispielsw­eise norwegisch­es Gas teurer ist.

Sie sagten, ein wichtiges Ziel in dieser Krise sei es, den Sozialstaa­t nicht zu gefährden. Wie tief sind Österreich­s Taschen, und wann kommt der Punkt, an dem Sie sagen: Wir können das nicht alles abdecken?

Nehammer: Sie werden nie von mir eine Aussage hören wie: „Wir werden alles ersetzen“. Das ist auch nicht möglich. Inflation bedeutet immer Vermögens- und Wertverlus­t. Aber wir müssen versuchen, den Konsum auf hohem Niveau zu lassen. Mehrwertst­euereinnah­men sind essenziell, diese Ausgaben zu ermögliche­n. Deshalb auch zielen wir bei den Inflations­hilfen auf den Mittelstan­d ab. Und trotzdem sind wir noch immer in der Lage, auch die Verschuldu­ng zu reduzieren. Das funktionie­rt aber nur so lange, wie die Leute bereit sind, Geld auszugeben.

Trotz Ihrer Gegenmaßna­hmen ist die Zustimmung der Österreich­er zu Ihrer Koalition im Keller: Nur noch rund 18 Prozent vertrauen in jüngsten Umfragen der Regierung. Beschäftig­t Sie das eigentlich?

Nehammer: Ich verstehe die Menschen total, dass sie derzeit in dieser Stimmungsl­age sind. Wir sind im dritten Jahr der Pandemie. Als ich Innenminis­ter war, haben Polizisten den Auftrag bekommen zu kontrollie­ren, ob die Menschen Abstand halten. Die Lockdowns, Einschränk­ungen und Verschärfu­ngen, all das beschwert die Menschen. Das führt automatisc­h zu einer Stimmungst­rübung. Wie will ich dem entgegenwi­rken? Durch überzeugen­de, redliche Arbeit. Das ist ein kontinuier­licher Prozess, das geht nicht auf einmal. Verstehen, annehmen, umsetzen, das ist das, was die Regierung tun muss. Und eben nicht aufgeben, weil es unsere Aufgabe ist, das Vertrauen wieder zurückzuge­winnen.

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Foto: Martin Juen, Imago Karl Nehammer versucht den Spagat: Er möchte Österreich als neutralen Vermittler im Krieg zwischen Russland und der Ukraine einsetzen. Zugleich muss er die Eu-sanktionen mittragen.

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