Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Es braucht radikale Veränderungen“
Andreas Sturm war hochrangiger römisch-katholischer Kleriker. Kürzlich trat er zurück, aus der Kirche aus und geht nun zu den Alt-katholiken. Er sagt, es müsse „erst zum totalen Zusammenbruch kommen“.
Herr Sturm, was denken Sie, wenn Sie die Austrittszahlen der römisch-katholischen Kirche für das Jahr 2021 sehen?
Andreas Sturm: Die Zahlen haben mich nicht wirklich überrascht, da ich die Zahlen für mein ehemaliges Bistum Speyer bereits kannte. Gleichzeitig machen sie mich dennoch sehr betroffen, da sie mir zum einen zeigen, wie wenig Hoffnung die Menschen in die verfasste Kirche haben und wie schwer sich gleichzeitig die Kirchenleitung damit tut, echte Veränderungen auf den Weg zu bringen.
Wenn weiter sehr viele austräten, blieben dann nur noch die konservativen „Rechtgläubigen“?
Sturm: Noch höre ich von vielen die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt mit meinem eigenen Austritt. Aber Sie haben schon recht: Käme es zu noch mehr Austritten, wird ein „heiliger Rest“von wenigen bleiben, die sich gegen jegliche Form von Veränderung verwahren und die in meinen Augen immer weniger anschlussfähig werden an die heutige Welt.
Ist die Kirche noch zu retten?
Sturm: Ich glaube, dass Veränderungen möglich sind. Aber dazu muss es erst zum totalen Zusammenbruch
kommen. Erst danach kann etwas Neues aufgebaut werden. Solange das System irgendwie läuft, meint man, es würden kleine Schönheitsreparaturen reichen. Ich glaube: Es braucht radikale Veränderungen. Oder zumindest einen Umbau in einzelnen Teilkirchen. Diese müssten deutlich mehr Autonomie von Rom bekommen. Wenn man meint, man könne von Rom aus, wie in einer Konzernzentrale, die gesamte Weltkirche leiten und Befehle geben, dann wird man diesen Karren an die Wand fahren.
Warum genau traten Sie im Mai als Generalvikar und damit als Nummer zwei im Bistum zurück?
Sturm: Es gab nicht den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es war ein Weg der Entfremdung. Es gab immer mehr Punkte, die mich haben spüren lassen, dass ich ein Fremdkörper in dem System bin. Wenn aber das System nicht bereit ist, sich zu ändern, muss man sich selbst ändern.
Blicken Sie auf quälende Jahre?
Sturm: Nein, nein, nein. 47 Jahre Mitglied in dieser Kirche waren auch wunderbare Jahre. Ich habe tolle Erlebnisse gehabt. Und trotzdem gab es immer wieder Schlimmes.
Aber wissen Sie: Ich bin kein mutiger Reformer. Ich bin nicht Martin Luther 2.0 oder so was. Ich war oft ganz schön feige und habe nicht meinen Mund aufgemacht. Manchmal denke ich: Hätte ich nur früher viel deutlicher artikuliert, was mich stört!
Sie brachen den Zölibat.
Sturm: Es gab Beziehungen zu Frauen, und ich habe das nicht gut geregelt bekommen. Die Beziehungen sind auch daran gescheitert, ich bin gescheitert.
Es gibt eine recht bewegende Passage in Ihrem kürzlich erschienenen Buch: der Ausflug mit Ihrem Patenkind und deren Bruder ...
Sturm: Wir waren erst in einer Ausstellung und dann im Dom. Das war in den Weihnachtsferien und es war viel los. Ich habe mein Patenkind also auf die Schultern genommen, ihren Bruder hatte ich an der Hand – so sind wir an die Krippe herangetreten. Wir haben das Lagerfeuer gesehen, um das sich die Hirten versammelt haben. Und auf einmal rief der Bruder meines Patenkindes mit einer glockenhellen, lauten Stimme: „Papa, da hinten ist auch noch ein Elefant!“Das war lustig und schön. Er fühlte sich wohl, das mit dem „Papa“ist ihm rausgerutscht. Mir schoss in dem Moment aber nur noch durch den Kopf: Um Gottes willen, wenn das jemand gehört hat! Dann halten mich die Leute für seinen Vater!
Denunziationen sind keine Seltenheit in der römisch-katholischen Kirche. Mussten Sie ebenfalls diese Erfahrung machen?
Sturm: Ja, das passierte. Das geschah etwa durch anonyme Briefe. Früher dachte ich, so einen Brief zerreiße ich direkt. Ich finde, man muss so etwas dennoch lesen, auch wenn es für mich überaus belastend war und ist. Es ist eine Unsitte in der Kirche geworden, wie viele Menschen meinen, einen anschwärzen zu müssen. Das ist unsäglich.
Jetzt gehen Sie zu den Alt-katholiken – zum 1. August, nach Singen und Sauldorf, unweit des Bodensees. Sie fangen also nochmals neu an.
Sturm: Zum Glück beginne ich nicht ganz von vorne, es wird einiges anerkannt. Und vorher mache ich im Juli noch ein Praktikum in einer alt-katholischen Pfarrei in München. In Singen und Sauldorf werde ich in den nächsten vier Jahren sein, in denen muss ich auch das Studium in alt-katholischer Theologie nachholen. Danach wird die Pfarrei mit ihren etwas mehr als 300 Mitgliedern neu ausgeschrieben und ich kann mich auf sie als Pfarrer bewerben.
Die alt-katholische Kirche wird manchmal als die „bessere“katholische Kirche bezeichnet – weil in ihr verwirklicht ist, was sich viele auch in der römisch-katholischen wünschen: kein Pflichtzölibat, Frauen als Priesterinnen ...
Sturm: Von besser zu sprechen, ist schwierig. Was mir sympathisch ist, ist, dass eben die Strukturen, an denen ich mich in der römischkatholischen Kirche gerieben habe, in der alt-katholischen Kirche anders sind. Ich brauche dort keine Schere mehr im Kopf zu haben.
Andreas Sturm: Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will. Ein Generalvikar spricht Klartext. Verlag Herder, 192 Seiten, 18 Euro