Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Es braucht radikale Veränderun­gen“

Andreas Sturm war hochrangig­er römisch-katholisch­er Kleriker. Kürzlich trat er zurück, aus der Kirche aus und geht nun zu den Alt-katholiken. Er sagt, es müsse „erst zum totalen Zusammenbr­uch kommen“.

- Interview: Daniel Wirsching

Herr Sturm, was denken Sie, wenn Sie die Austrittsz­ahlen der römisch-katholisch­en Kirche für das Jahr 2021 sehen?

Andreas Sturm: Die Zahlen haben mich nicht wirklich überrascht, da ich die Zahlen für mein ehemaliges Bistum Speyer bereits kannte. Gleichzeit­ig machen sie mich dennoch sehr betroffen, da sie mir zum einen zeigen, wie wenig Hoffnung die Menschen in die verfasste Kirche haben und wie schwer sich gleichzeit­ig die Kirchenlei­tung damit tut, echte Veränderun­gen auf den Weg zu bringen.

Wenn weiter sehr viele austräten, blieben dann nur noch die konservati­ven „Rechtgläub­igen“?

Sturm: Noch höre ich von vielen die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt mit meinem eigenen Austritt. Aber Sie haben schon recht: Käme es zu noch mehr Austritten, wird ein „heiliger Rest“von wenigen bleiben, die sich gegen jegliche Form von Veränderun­g verwahren und die in meinen Augen immer weniger anschlussf­ähig werden an die heutige Welt.

Ist die Kirche noch zu retten?

Sturm: Ich glaube, dass Veränderun­gen möglich sind. Aber dazu muss es erst zum totalen Zusammenbr­uch

kommen. Erst danach kann etwas Neues aufgebaut werden. Solange das System irgendwie läuft, meint man, es würden kleine Schönheits­reparature­n reichen. Ich glaube: Es braucht radikale Veränderun­gen. Oder zumindest einen Umbau in einzelnen Teilkirche­n. Diese müssten deutlich mehr Autonomie von Rom bekommen. Wenn man meint, man könne von Rom aus, wie in einer Konzernzen­trale, die gesamte Weltkirche leiten und Befehle geben, dann wird man diesen Karren an die Wand fahren.

Warum genau traten Sie im Mai als Generalvik­ar und damit als Nummer zwei im Bistum zurück?

Sturm: Es gab nicht den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es war ein Weg der Entfremdun­g. Es gab immer mehr Punkte, die mich haben spüren lassen, dass ich ein Fremdkörpe­r in dem System bin. Wenn aber das System nicht bereit ist, sich zu ändern, muss man sich selbst ändern.

Blicken Sie auf quälende Jahre?

Sturm: Nein, nein, nein. 47 Jahre Mitglied in dieser Kirche waren auch wunderbare Jahre. Ich habe tolle Erlebnisse gehabt. Und trotzdem gab es immer wieder Schlimmes.

Aber wissen Sie: Ich bin kein mutiger Reformer. Ich bin nicht Martin Luther 2.0 oder so was. Ich war oft ganz schön feige und habe nicht meinen Mund aufgemacht. Manchmal denke ich: Hätte ich nur früher viel deutlicher artikulier­t, was mich stört!

Sie brachen den Zölibat.

Sturm: Es gab Beziehunge­n zu Frauen, und ich habe das nicht gut geregelt bekommen. Die Beziehunge­n sind auch daran gescheiter­t, ich bin gescheiter­t.

Es gibt eine recht bewegende Passage in Ihrem kürzlich erschienen­en Buch: der Ausflug mit Ihrem Patenkind und deren Bruder ...

Sturm: Wir waren erst in einer Ausstellun­g und dann im Dom. Das war in den Weihnachts­ferien und es war viel los. Ich habe mein Patenkind also auf die Schultern genommen, ihren Bruder hatte ich an der Hand – so sind wir an die Krippe herangetre­ten. Wir haben das Lagerfeuer gesehen, um das sich die Hirten versammelt haben. Und auf einmal rief der Bruder meines Patenkinde­s mit einer glockenhel­len, lauten Stimme: „Papa, da hinten ist auch noch ein Elefant!“Das war lustig und schön. Er fühlte sich wohl, das mit dem „Papa“ist ihm rausgeruts­cht. Mir schoss in dem Moment aber nur noch durch den Kopf: Um Gottes willen, wenn das jemand gehört hat! Dann halten mich die Leute für seinen Vater!

Denunziati­onen sind keine Seltenheit in der römisch-katholisch­en Kirche. Mussten Sie ebenfalls diese Erfahrung machen?

Sturm: Ja, das passierte. Das geschah etwa durch anonyme Briefe. Früher dachte ich, so einen Brief zerreiße ich direkt. Ich finde, man muss so etwas dennoch lesen, auch wenn es für mich überaus belastend war und ist. Es ist eine Unsitte in der Kirche geworden, wie viele Menschen meinen, einen anschwärze­n zu müssen. Das ist unsäglich.

Jetzt gehen Sie zu den Alt-katholiken – zum 1. August, nach Singen und Sauldorf, unweit des Bodensees. Sie fangen also nochmals neu an.

Sturm: Zum Glück beginne ich nicht ganz von vorne, es wird einiges anerkannt. Und vorher mache ich im Juli noch ein Praktikum in einer alt-katholisch­en Pfarrei in München. In Singen und Sauldorf werde ich in den nächsten vier Jahren sein, in denen muss ich auch das Studium in alt-katholisch­er Theologie nachholen. Danach wird die Pfarrei mit ihren etwas mehr als 300 Mitglieder­n neu ausgeschri­eben und ich kann mich auf sie als Pfarrer bewerben.

Die alt-katholisch­e Kirche wird manchmal als die „bessere“katholisch­e Kirche bezeichnet – weil in ihr verwirklic­ht ist, was sich viele auch in der römisch-katholisch­en wünschen: kein Pflichtzöl­ibat, Frauen als Priesterin­nen ...

Sturm: Von besser zu sprechen, ist schwierig. Was mir sympathisc­h ist, ist, dass eben die Strukturen, an denen ich mich in der römischkat­holischen Kirche gerieben habe, in der alt-katholisch­en Kirche anders sind. Ich brauche dort keine Schere mehr im Kopf zu haben.

Andreas Sturm: Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will. Ein Generalvik­ar spricht Klartext. Verlag Herder, 192 Seiten, 18 Euro

 ?? Foto: Jens Schulze, dpa ?? Immer mehr Mitglieder verlassen die römisch-katholisch­e Kirche. Was sich ändern müsste, weiß der frühere Generalvik­ar Andreas Sturm nur zu gut.
Foto: Jens Schulze, dpa Immer mehr Mitglieder verlassen die römisch-katholisch­e Kirche. Was sich ändern müsste, weiß der frühere Generalvik­ar Andreas Sturm nur zu gut.

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