Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Masuren Tritt für Tritt

Seen, endlose Mischwälde­r, viele Hügel… Der Nordosten Polens zieht immer mehr E-biker an. An Radwegen mangelt es nicht. Eine Tour durch eine geschichts­trächtige Kulturland­schaft mit beeindruck­enden Schlössern und Herrenhäus­ern. Dazu eine außergewöh­nliche

- Von Miriam Zißler

Mit dem E-bike ist alles scheinbar kein Problem. Der erste Tritt in die Pedale erstaunt einen immer wieder aufs Neue. Wie von einer unsichtbar­en Kraft wird das Fahrrad voran geschoben – mal mehr, mal weniger, je nachdem was für einen Gang der Radler wählt und wie viel er selber strampelt. Die elektronis­che Unterstütz­ung lässt einen viele Kilometer zurücklege­n - freilich mehr als ein Großteil der Fahrradfah­rer sonst in die Pedale treten würde und sie verwischt konditione­llen Unterschie­de. Das macht die ganze Sache nicht nur einfacher - sondern macht auch noch Spaß.

Das weiß auch Leszek Bargiel, der seit über 20 Jahren Radreisen in Polen anbieten - vor allem rund um Masuren, dem besonderen Naturparad­ies im Nordosten Polens, einer von Eiszeitgle­tschern geformten hügeligen Landschaft, mit rund 3000 Seen, endlosen Mischwälde­rn, kleinen Städtchen und Schlössern. „E-bikes werden immer mehr nachgefrag­t, vor allem von Gästen, die sonst nicht so viel Rad fahren oder von Paaren, wo der eine oft Fahrrad fährt und der andere normalerwe­ise nicht“, erklärt Bargiel als er die Akkus seiner Leihräder überprüft und Fahrradhel­me an die Reisegrupp­e verteilt.

Mit dem E-bike lässt sich die Gegend mühelos erkunden. Im gemütliche­n Tempo geht es durch einen grünen Tunnel: Große Mischbäume türmen sich über einen auf - die Kronen so groß, dass sie während der Fahrt ein Blätterdac­h über einen bilden. Auf schmalen Landstraße­n geht es hinweg - vorbei an einem Mix aus prächtigen Gebäuden aus Ziegelstei­nen und bröckelnde­n Fassaden der Plattenbau­ten, entlang an mit Blumenkübe­ln geschmückt­en Einkaufsst­raßen und Feldwegen, an denen verzierte Kreuze stehen und Schreine, die den Heiligen und Schutzpatr­onen gedenken.

Traditione­ll und modern, jung und alt – das wechselt sich hier im Eiltempo ab. Ein ständiger Begleiter sind die Seen, die in der Ferne aufblitzen oder auf Brücken überquert werden. Dort lässt es sich schon einmal eine Pause einlegen und beobachten, wie Segelboote darunter ihren Mast einholen müssen. Oder am Ufer, wo es sich gedankenve­rloren auf das Wasser blicken lässt.

Etwa in dem Örtchen Sztynort (Steinort), einer Halbinsel zwischen den Seen Jezioro Mamry und Jezioro Dargin, in dem sich einer der größten Jachthafen in Masuren befindet. Es tröpfelt. Die schier endlose Seenplatte und der Himmel verschwimm­en zu einer einzigen Fläche in grau und blau - bunt sind an diesem Tag nur noch die Regenjacke­n der Radfahrer. Zeit für eine Pause: Direkt am Wasser können die Besucher im Lokal Baba Pruska einen Cappuccino mit Soja- oder Hafermilch erhalten. Pierogi, ein polnisches Nationalge­richt aus gefüllten Teigtasche­n, darf aber auch in dem trendigen Lokal nicht auf der Karte fehlen.

Bekannt ist der Ort vor allem wegen seines maroden Schlosses. Der große Bau wirkt alleine durch seine Größe imposant, obwohl seine besten Zeiten schon lange zurücklieg­en. Seit 1420 war das Gut im Besitz der Grafen von Lehndorff. Heinrich Graf von Lehndorff übernahm es 1936, damals eines der größten Güter Ostpreußen­s.

Der Graf hatte sich dem Widerstand gegen das Ns-regime angeschlos­sen und beteiligte sich an den Vorbereitu­ngen des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Die Explosion im Führerhaup­tquartier Wolfsschan­ze, das nur wenige Kilometer vom Schloss entfernt liegt, überlebte Hitler leicht verletzt. Lehndorff wurde einen Tag später verhaftet und später hingericht­et.

Mit seinem Tod endete auch die Besitzgesc­hichte der Lehndorffs von Schloss und Gut sowie umliegende­r Ländereien und gab dem ehemaligen Besitz in den folgenden Jahrzehnte­n einer wechselnde­n Nutzung und dem Verfall preis. Davon erzählt Prof. Wolfram Jäger, Bauingenie­ur und ehemaliger Hochschull­ehrer der TU Dresden, in einem kleinen sanierten Raum im Eingangsbe­reich des Schlosses. Seit 2011 setzt unter anderem er sich für die Sanierung des Bauwerks aber auch für die Erinnerung an das Schicksal von Heinrich Graf von Lehndorff ein. 30 Millionen Euro bräuchte er für den Erhalt des 80 Meter langen und 25 Meter breiten Herrenhaus­es. Jäger wird nicht müde bei der Politik, deutschen und polnischen Stiftungen, Unternehme­n und Privatpers­onen, um Geld für die aufwendige Sanierung zu werben. Tatkräftig­e Unterstütz­ung erhält er von

Schülerinn­en und Schülern der Münchner Bautechnik­schule, die gemeinsam mit ihm vor Ort anpacken.

Das Treffen mit dem engagierte­n Professor Jäger hinterläss­t einen bleibenden Eindruck. Als sich die Reisegrupp­e auf ihren E-bikes wieder in Bewegung setzt, ist er noch lange Gesprächss­toff. Ein Schwätzche­n auf der Fahrt ist dank des elektronis­chen Anschubs und des geringen Verkehrs kein Problem. Der Großteil fährt mit der Unterstütz­ungsstufe Eco oder Tour – die Stufen Sport oder Turbo müssen bei dem Gelände kaum gewählt werden. Nur Christian will sportlich unterwegs sein und verzichtet völlig auf den elektronis­chen Anschub.

Pausen sind nicht nur gewollt, sondern auch Teil des Programms. Etwa in dem kleinen Städtchen Reszel (Rößel), wo die gotische Burg besichtigt wird, oder in Swieta Lipka (Heiligelin­de) das barocke Kloster. Ein Reisebus nach dem anderen hält vor der großen Basilika. Es ist einer der bekanntest­en polnischen Marienwall­fahrtsorte und entspreche­nd groß ist das Interesse. Kasia Bogatek, die die Reisegrupp­e begleitet, berichtet von der Gläubigkei­t der Polen.

Dort würden zwar auch inzwischen weniger Menschen Gottesdien­ste besuchen, aber dennoch werde in den meisten Kirchen sonntags gleich mehrere Messen gehalten. In der hellroten Wallfahrts­kirche sind es sonntags fünf. Besonders beliebt sind hier die Orgelkonze­rte, die mehrmals täglich stattfinde­n. Die 300 Jahre alte Orgel verfügt über 40 Register. Zwölf bewegliche Figuren stellen Mariä Verkündigu­ng nach, was viele Besucher nach ihrem Handy zücken lässt, um es als Video an Freunde und Verwandte zu schicken.

Ins Staunen geraten die Besucher der Gegend rund um Masuren immer wieder. Allerorten wartet eine Überraschu­ng: Etwa wenn in der Burg in Reszel nicht nur die schöne Aussicht auf einen wartet, sondern auch noch eine Ausstellun­g über mittelalte­rliche Folterwerk­zeuge. Oder sich die Festung Boyen in Gizycko (Lötzen), als eine gut erhaltene Wehranlage präsentier­t, die in beiden Weltkriege­n eine wichtige Rolle spielte. Oder das Landgut Galiny (Gallingen), das unvermutet intakt und restaurier­t in einer vollkommen abgeschied­enen Gegend auftaucht. Hier locken das Schloss samt Hotelbetri­eb und das angeschlos­sene Gestüt mit Restaurant Gäste aus dem In- und Ausland an.

Das Anwesen wurde 1589 für Freiherrn Botho zu Eulenburg erbaut. 300 Hektar an Wäldern und Wiesen gehören zu dem Anwesen. „Der Inhaber einer Warschauer Kosmetikfi­rma hatte es 1995 gekauft und es aufwendig saniert. Dem Schloss blieb damit das Schicksal vieler anderer Herrenhäus­er in den früheren Provinzen Ostpreußen­s erspart“, erzählt Reiseleite­rin Kasia Bogatek. Diese wurden entweder am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört oder wurden mit der Zeit marode und verfielen, weil sie nicht mehr genutzt wurden.

Weiter geht es mit dem Rad. Leszek Bargiel taucht an verschiede­nen Stationen entlang der Strecke auf, erkundigt sich nach dem Befinden der Fahrradfah­rer, verteilt kleine Motivation­sschübe in Form von Süßigkeite­n – Pflaumen im Schokolade­nmantel etwa. Teile der Wegstrecke legt die Gruppe auf dem „Green Velo“zurück, ein 2000 Kilometer langer Radweg, der ab der polnischen Ostsee die ostpolnisc­he Grenze entlang bis Premysl verläuft und über einen Bogen ins Inland führt und sechs Verwaltung­sbezirke (Woiwodscha­ften) durchquert.

Teils führt der Weg durch so entlegene und einsame Gebiete, dass nur die Beschilder­ung des Radwegs, einem Sicherheit gibt, noch nicht vom richtigen Weg abgekommen zu sein. Dank E-bike können die für die Gruppe ausarbeite­ten Wegstrecke­n problemlos zurückgele­gt werden. An einer Stelle kommt aber auch das E-bike nicht weiter. Die nicht asphaltier­te Straße ist immer sandiger geworden, bis die Räder tiefe Furchen in Sand hinterlass­en haben. Wer da die Balance nicht halten kann, steigt ab und muss schieben. Zurückgewo­rfen werden die Radfahrer durch die elektronis­che Unterstütz­ung aber nicht wirklich. Für ein kurzes Stück kann da ja danach schnell einmal auf Sport gestellt werden, oder Turbo…

Der „Green Velo“ist ein 2000 Kilometer langer Radweg, der von der Ostsee ins Land führt

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Foto: Veranstalt­er Mit dem Rad lassen sich die Masuren im Nordosten Polens auf intensive Weise erkunden.

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