Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Donner im Donbass
Konstantin ist erst 24, befehligt aber schon als Hauptmann eine Artillerie-einheit, die mit alten Sowjet-haubitzen kämpft. Er hat genaue Vorstellungen, wie man die Städte in der Ostukraine besser schützen könnte. Menschen wie die 80-jährige Lidiya wären f
Bachmut In der Ferne zieht eine Rauchschwade auf, das tiefe Grummeln der Artillerie ist zu hören. Der Donner der Geschütze ist Alltag an der Front im Donbass. Konstantin sieht ungeduldig auf die Uhr. Die Zeit rennt. Der Hauptmann lehnt an einer Haubitze aus Sowjetzeiten und verschnauft kurz. Sie ist um mehr als zwei Jahrzehnte älter als der 24-jährige Ukrainer. „Die Haubitze ist viel in Gebrauch. Jetzt muss sie in die Wartung, Reparaturen sind fällig“, sagt Konstantin.
Soldaten entfernen für die kurze Inspektion noch Äste und Blattwerk, die als Tarnung des tonnenschweren Ungetüms dienen. „Kriegt ihr sie wieder hin?“, fragt der junge Hauptmann einen Soldaten, der mindestens doppelt so alt ist. Der Mann sieht mit seiner kurzen Hose und der ärmellosen Flecktarnjacke eher einem Angler ähnlich. Der Soldat nickt zur Antwort. „Das ist ein alter Hase, auf ihn kann ich mich zu 100 Prozent verlassen“, sagt der junge Offizier. Konstantin blickt noch einmal auf die Haubitze. Dann marschiert er weiter, um anderes Material zu sichten.
Es sind aufreibende Wochen und Monate, die der Offizier erlebt. Seine Einheit kämpft im Raum Bachmut gegen die russischen Truppen. Sie rücken von Osten und Südosten an. Zehn Kilometer entfernt von Bachmut verläuft die Frontlinie. „Die Lage ist dynamisch“, erklärt der Offizier. Das klingt ziemlich diplomatisch. Tatsächlich tobt im Donezbecken, auch Donbass genannt, ein verlustreicher Abnutzungskrieg. Russland hat gerade die strategisch wichtige Stadt Sewerodonezk eingenommen und kommt damit seinem Ziel näher, die gesamte Region zu erobern.
Konstantins Einheit ist in Bewegung. Gerade rattern schwere Laster mit Geschützen als Anhänger über staubige und holprige Landstraßen zu den neuen Stellungen. Es gilt, auf neue Frontverläufe zu reagieren, aber auch, der russischen Artillerie kein leichtes Ziel zu geben. Die Aufklärung des Feindes schläft nicht, Konstantin weiß das.
„Jeder Griff meiner Soldaten muss sitzen. Unsere Schnelligkeit und Präzision schützen unsere Leben“, sagt der Hauptmann. Gelegentlich klingt er wie aus einem Handbuch für Offiziersanwärter. Die kampfbereiten Geschütze stehen verborgen in Waldstücken und dichtem Gebüsch. Um sie vor den russischen Drohnen zu schützen, „müssen wir sie bestens tarnen“. Dann erklärt der 24-Jährige den Kampfmodus: „Das Ziel wird geortet, die Daten werden von der Feuerleitstelle berechnet. Feuer frei.“Es muss schnell gehen. Je länger die Feuerphase dauert, desto größer ist die Gefahr, von der russischen Aufklärung entdeckt zu werden.
An der Front im Süden und in den Kampfgebieten des Donbass dröhnen seit Wochen die schweren Geschütze. Eine harte Prüfung für die ukrainische Armee, die mit Hinterhalten, guter Aufklärung, modernen Panzerabwehrsystemen, bewaffneten Drohnen und tragbaren Flugabwehr-raketen die Invasion der russischen Truppen ein Stück weit zurückdrängen konnte. Mit Kampfgeist und Offizieren,
die vor Ort selbst schnell Entscheidungen treffen können. „Das ist genau das Gegenteil zum russischen System, das Offizieren wie mir wenig Entscheidungsfreiheit gibt“, sagt Konstantin.
Der Mann war 18, als er sich zur Armee meldete, und Anfang 20, als er sein Offizierspatent im westukrainischen Lwiw stolz in Händen hielt. „Schon damals befand sich mein Land im Krieg gegen Russland. Es war eine Selbstverständlichkeit, mich zu verpflichten“, sagt er und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Es ist ein heißer, wolkenloser Tag. Schräg über die Schultern des Hauptmanns ziehen sich die schwarzen Riemen für das Pistolenholster. In der Tasche der Camouflage-hose steckt das Magazin seiner Kalaschnikow. „Ich liebe mein Land, deswegen bin ich jetzt genau am rechten Ort“, sagt Konstantin. Der junge Mann ist kein Freund zu vieler Worte. Seine Sätze sind meist kurz und militärisch. Für die Artillerie hatte er sich entschieden, „weil mich die Wucht dieser Waffengattung beeindruckt hat. Die Mathematik, die mit ihr verbunden ist.“
Dann präzisiert er: „Rechnen ist immer angesagt. Der Verschleiß eines Haubitzenrohrs verändert auch die Flugbahn. Alles muss mit einberechnet werden. Sonst bringen die besten Daten unserer Aufklärung nichts“, erzählt er. „Die Artillerie ist eine mächtige Waffe, aber sie funktioniert nur mit kühlem Verstand.“Konstantin und seiner Truppe gelang es zu Beginn der Invasion, zwei Tage lang den russischen Vorstoß aufzuhalten. Ein wertvoller Zeitgewinn. Konstantin erhielt dafür eine hohe Auszeichnung. Aber was hilft alle Tapferkeit, wenn sich der Feind mit einer deutlichen Überzahl an schweren Waffen langsam, aber scheinbar unaufhaltsam im Donbass vorwärts schießt?
1000 Kilometer ist die Frontlinie im Osten und Süden insgesamt lang. „Ja, die Russen haben eine Überzahl an schweren Waffen, das ist bekannt. Aber wir nutzen unsere Chancen erfolgreich, wann immer wir sie bekommen“, erklärt der Offizier. Für drei Tage seien seiner Einheit drei M777-feldhaubitzen zugeordnet worden. „Eine effektive Waffe aus den USA. Die Reichweite ist höher als die der Russen. Sie ist extrem zielgenau. In diesen drei Tagen gelang es uns, 13 russische Artillerie-batterien zu zerstören. Und weiter der Infanterie hohe Verluste zuzufügen“, berichtet der Hauptmann.
„Wenn wir mehr davon hätten, wäre die Frontlage im Donbass eine andere. Auch die Städte wären sicherer“, glaubt er. „Aufgrund der höheren Reichweite könnten wir den russischen Vormarsch früher stoppen, sodass ihre Artillerie mit ihrer zerstörerischen Ladung nicht mehr unsere Städte erreicht.“So hofft Konstantin auf weitere westliche Waffentechnik. „Wir brauchen sie dringend“, erklärt er.
Mehrfachraketenwerfer M142 Hilmars aus den USA, britische Raketenwerfer des Typs M270 oder die von Deutschland zugesagten vier Systeme des Typs Mars II und die Panzerhaubitzen 2000, von denen vergangene Woche die ersten in der Ostukraine angekommen sind – all das wünscht sich Konstantin so schnell und so zahlreich wie möglich. „Mit der hohen Reichweite und vor allem der Präzision hätten wir ganz andere Karten in der Hand“, so der Soldat.
Und er würde weniger Soldaten verlieren. „Drei meiner Leute sind gefallen. So viel weniger als in vergleichbaren Einheiten. Aber jeder Einzelne ist zu viel. Schwere Waffen schützen auch die Leben meiner Leute“, sagt er. Die Anrufe bei den Angehörigen gehören mit zu den schlimmsten Augenblicken in seinem Leben. „Das ist eine schwere Bürde. Wie kann man bei einer solchen Nachricht die richtigen Worte finden?“, sagt er leise.
Konstantin verzichtet im Interview auf politische Aussagen. So bleibt auch die Kritik an der Bundesregierung über zögerliche Waffenlieferungen aus. Einer seiner Soldaten, ein muskelbepackter blonder Hüne, macht seinem Ärger dann doch Luft: „Hier sterben unsere Kameraden, verlieren Menschen ihre Heimat und ihr Leben, weil uns schwere Waffen fehlen. Wir brauchen mehr Unterstützung.“
Konstantin erinnert an den russischen Vormarsch. Der ist brachial. Die russische Armee schießt sich mit schwerem Kaliber den Weg frei. „Und mit wenig Rücksicht auf die zivile Bevölkerung“, fügt der Hauptmann hinzu. „Das zu sehen macht wütend. Kein Mensch ist als Soldat geboren. Hätte es im Donbass keinen Krieg gegeben, hätte ich mich nicht verpflichtet.“Nach dem Krieg, erzählt der Offizier noch, wolle er eine Familie gründen. „Ich hoffe, dass meine Kinder keine Soldaten werden. Weil dann ein sicherer Frieden in einer freien Ukraine herrscht. Sie sollen keinen Krieg mehr erleben müssen. Auch dafür kämpfe ich“, sagt der Hauptmann zum Abschied. Dann muss er weiter, eine neue Stellung seiner Soldaten inspizieren. Sein Geländewagen verschwindet in einer Staubwolke.
Die Aufzählung von Waffensystemen ist nicht die Sache von Lidiya. Aber die alte Dame hat gelernt, wie das Rauschen von einer Salve Grad-raketen klingt, die über die Häuser fliegen. Oder das Zischen einer Granate. Der Lärm des Krieges ist jeden Tag viel zu oft zu hören. Dass ihre Stadt Bachmut bald ein Trümmermeer wie Mariupol ist, davor hat Lidiya Angst. Wie wohl alle, die nicht geflohen sind. Noch hält sich die Zerstörung in Grenzen. Doch die Stadt wirkt verlassen, weit mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner sollen bereits die Flucht ergriffen haben. Es werden mehr, je näher die Front heranrückt.
Mit einem großen weißen Sommerhut auf dem Kopf ist Lidiya zum Theater gelaufen. Dort werden Lebensmittel und Hilfsgüter verteilt, die unter anderem das Ukrainische Rote Kreuz liefert. Dessen Helferinnen und Helfer bringen sich bei ihrem Einsatz, zu dem auch die Rettung von gebrechlichen und behinderten Menschen zählt, nicht selten selber in Gefahr.
„Heute gibt es kein Brot“, steht auf einem Schild. So läuft die 80-Jährige mit leerem Beutel wieder gut zwei Kilometer zu ihrem Block zurück. Durch einen Park und an dem Bekleidungsgeschäft vorbei, in dem nur noch nackte Puppen im Schaufenster stehen. „Ich will nicht klagen, wir sind mit dem Nötigsten versorgt. Zum Glück hilft mir auch mein Sohn. Doch kommen Sie mit, sehen Sie, wie wir leben“, sagt sie.
Im Hinterhof ihres Blocks ist eine Gradrakete eingeschlagen. Der Krater liegt nahe einer Spielplatz-schaukel. Das Sitzbrett
Was hilft alle Tapferkeit, wenn der Feind trotzdem vorrückt?
Schon bei der Begrüßung kommen der alten Frau die Tränen
hängt geborsten in der zerrissenen Kette. Kaum ein Fenster, das der Druckwelle widerstand. Ein Teil des Blocks fing Feuer. Der Ruß zieht sich über mehrere Stockwerke und leere Fensterhöhlen.
„Die Wohnungen einiger Nachbarn sind ausgebrannt“, sagt sie und führt in den Keller hinunter. Eine Frau sitzt im dämmrigen Licht. Sie hat eine Matratze nach unten geschleppt. Ein Tischchen, eine grüne Decke und eine Tasche voller Kleidung, das ist alles, was sie hier unten hat. Schon bei der Begrüßung kommen ihr die Tränen.
„Schlimm ist das alles. Ich hatte in all den Jahren seit 2014 befürchtet, dass der Krieg wieder zunehmen wird. Aber dass es so grausam wird, hätte ich nicht erwartet“, sagt sie kopfschüttelnd. Wieder im hellen Sommerlicht, trottet ihr eine Hündin entgegen und schmiegt ihren Kopf gegen das Bein von Lidiya. „Das ist unsere Agatha. Ein liebes und treues Tier“, sagt die 80-Jährige. In der Ferne bellen Haubitzen. Agatha läuft schnell und geradewegs unter das Vordach eines Eingangs. „Sehen Sie, selbst die Hunde lernen schon, was der Krieg bedeutet. Ist das nicht zum Verzweifeln?“, meint die Rentnerin. „Jetzt heißt es, sehr tapfer zu sein.“