Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Zum Wesen der Wirklichkeit
Neues von Michael Schreiner, nun erstmals auch im Duo: Eine Wahrnehmungserkundung für Fortgeschrittene in vier Fotoserien – und mit einer philosophischen Betrachtung.
Wie sehen wir, was wir sehen? Und in welchem Verhältnis steht ein Abbild zur Wirklichkeit?
Wer die Fotografien von Michael Schreiner kennt, die jeden zweiten Freitag auch auf dieser Seite als „Ansichtssache“erscheinen, weiß: Seine Serien sind als Wahrnehmungsschärfung zu erfahren – Bildfundstücke eines Flaneurs, die zum genaueren Hinschauen im Stadtraum anregen. Auch im neuen Buch des ehemaligen Kulturchefs dieser Zeitung, „diaphan“, ist eine der vier Serien eine solch typische Sammlung: Porträtreste auf Plakatwänden in Addis Abeba, „ethiopian faces“– ungewöhnlich bloß die Wandlung ins Schwarzweiß. Was aber dem Konzept des Buches geschuldet scheint: einer diesmal viel weiter und grundsätzlicher als bislang ausgreifenden Wahrnehmungsbefragung.
„Wodurch sehen wir? Durch unsere Augen? Durch das Licht? Oder durch das Medium, das uns das
Sichtbare präsentiert?“So fragt einleitend in einem weit aus- und hoch hinaus greifenden Essay der Berliner Schriftsteller Volker Demuth. Und liefert mit seiner Bestimmung Titel und Begriff: Er nimmt „das Diaphane“aus der antiken Wahrnehmungslehre des Aristoteles, in dem das Licht als das identifiziert wird, was alles zur Erscheinung bringt, aber selbst nicht in Erscheinung tritt. Auf die Fotografien im Buch angewandt bedeute das: Es würden „Hintergründe der Erscheinungen dieser Welt durchleuchtet“. Schreibt Demuth also, in dessen Text allein leider zugeordnet ist, welche der vier dann folgenden Serien von welchem Fotografen stammt.
Denn Michael Schreiner zeigt sich hier quasi erstmals im Duo, hat sich mit dem in Ziemetshausen bei Augsburg lebenden Leidenschaftsgenossen Wolfgang Menel zusammengetan, auch in der gegründeten Edition Kanu – und ist mit seiner ersten Serie dabei eben alles andere als sofort wiedererkennbar. „durchsicht“heißt das
Projekt, in dem Schreiner Zeitungsfotos in der Art analoger Mehrfachbelichtungen einander überlagern lässt und damit nicht mehr Aufgefundenes dokumentiert, sondern selber Konstellationen komponiert. Ästhetisch schafft er reizvolle Bezüge in Form und Farbe, die nie in zu platten Inhaltsbezügen
aufgelöst werden. Vor allem aber löst sich schön die Körnigkeit des Ausgangsmaterials in transparentes Erscheinen auf.
Dann folgt Menel, und er tut es krass im Kontrast, aber auch in der Bildsprache. Denn seine erste Serie „simulakrum“, das sind zwar auch Fotos von Fotos – aber weil hier frontale Schwarz-weiß-porträts zerknüllt abfotografiert, mal mehr oder weniger drastisch verzerrt werden, tritt hier das Medium, die Materialität des Abbildes in Erscheinung – eine wuchtige Idee, die in Serie ästhetisch eine ziemliche Zumutung bedeutet.
Der Kontrast dann zur nächsten, Schreiners zweiter Serie, ist gewitzt: Die Äthiopischen Gesichter in Schwarz-weiß setzen nun das Abgebildete fort, aber vom Alltag auf den Plakatwänden bearbeitet. Zugleich ist damit der Bruch zum reinen Abbild in der zweiten Hälfte vollzogen. Menels abschließende Serie „abglanz“zeigt Böden, meist mit Spiegelungen von Wänden oder Fenstern, aber auch mal mit einem Pfeil oder einer Sitzbank. Und so löst sich endlich zum Ende dieses so durchdacht wie ambitioniert wirkenden Bandes das Abbild selbst von allem Konkreten, ins Abstrakte auf. Das Foto beansprucht jetzt eine eigene Existenz .