Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Am besten, ich würde nicht mehr aufwachen“
Der 64-Jährige, der versucht haben soll, in Augsburg zwei Frauen zu töten, will nicht mehr viele Jahre weiter in der Psychiatrie leben. Vor Gericht erklärt er sein „großes Problem“.
„Für mich wäre es am besten, abends einzuschlafen und morgens nicht mehr aufzuwachen.“Karl S. 64, (Name geändert) sagt, er habe Krebs und Herzprobleme, habe aber keine Angst vor dem Tod. Er wolle nicht mehr auf viele Jahre hinaus eingesperrt sein in der „Geschlossenen“im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren. Dass es ihm ernst ist, hat er vor einer Woche bewiesen. Morgens, als er zum Prozess nach Augsburg gebracht werden sollte, hat er sich mit einem messerähnlichen Gegenstand, den er selbst gebastelt hat, den Hals und einen Arm aufgeschnitten.
Pfleger fanden ihn rechtzeitig. „Ja, er habe sich das Leben nehmen wollen“, bestätigt der große, schlanke Mann mit nackenlangen, grauen Haaren, Schnauz- und Kinnbart sauber gestutzt. Mit ineinander verschränkten Händen sitzt er im großen Saal des Schwurgerichts vor seinem Verteidiger
Florian Engert. Versuchten Mord in zwei Fällen wirft ihm Staatsanwalt Thomas Junggeburth vor in diesem sogenannten Unterbringungsprozess, an dessen Ende der Beschuldigte nicht bestraft werden kann. Zur Tatzeit, am Abend des 23. September 2021, war Karl S. nach einem vorläufigen psychiatrischen Gutachten vermutlich wieder schuldunfähig aufgrund einer besonderen Form der Schizophrenie. Schon im November 2014 war der Kfz-meister, wie damals berichtet, vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen worden, weil er seine Lebensgefährtin hatte töten wollen – eine innere Stimme habe es ihm damals befohlen. Er hatte sich als „Sohn Jesu“bezeichnet.
Karl S., der sich als philosophischen und freiheitsliebenden Menschen sieht, der sich „mit Gott und der Welt“beschäftigt, hat, wie er beteuert, „ein großes Problem“: Und das ist seine Leidenschaft für Marihuana. Jahrzehntelang hat er – mit teils großen Pausen – immer wieder Joints geraucht. „Das gibt mir ein Gefühl, das ich sonst nicht wahrnehmen kann, eine Erweiterung des Bewusstseins“, antwortet er auf eine Frage von Roland Christiani, dem Vorsitzenden des Gerichts, warum er die Droge rauche.
Anfang 2018 war die Unterbringung in der Psychiatrie nach dem ersten Urteil zur Bewährung ausgesetzt worden, nachdem er zuvor schon eine Zeit lang als „Freigänger“in Augsburg gearbeitet hatte. Am 23. September missachtet er das 2014 gerichtlich verhängte Drogenverbot, kauft sich für 100 Euro acht Gramm Marihuana und zieht sich im Laufe der nächsten Stunden insgesamt fünf Joints rein. Ein verhängnisvoller Rückfall. An den ersten mutmaßlichen Mordversuch – die Attacke auf seine Nachbarin in der Lindenstraße im Wertachviertel, mit der ihn zwei Jahre lang eine Freundschaft verband, kann sich Karl S. nicht mehr erinnern, wie er sagt. Er weiß nur noch, dass er ihr damals ein Kompliment
gemacht habe, weil sie „so gut aussah in einem schwarzen Kleid und mit ihren blonden Haaren“.
Dass er ihr urplötzlich einen graugrünen Wollschal mit Fransen um den Hals gelegt und angezogen hat, um sie offenbar zu töten, wisse er nicht mehr. Das Opfer hatte in letzter Not einen Daumen zwischen Schal und Hals schieben und den Angreifer abwehren können. Die Polizei rief die Frau offenbar nicht. Karl S. rauchte danach mehrere Joints. Dann klingelte er im Nachbarhaus bei einer Bekannten, wollte Hilfe, weil er angeblich von starken Bauchschmerzen geplagt war. Er saß zitternd am Eingang, die Frau und ihre Freundin brachten Karl S. in dessen Wohnung, wo er sich hinlegte. Urplötzlich sprang er auf, hatte ein Fleischmesser in der Hand, ging auf die Nachbarin zu und stach einmal auf sie ein. „Eine Stimme im Kopf hat mir das befohlen“, sagt Karl S. im Gerichtssaal. „Es war höhere Gewalt, ich konnte nichts dagegen tun.“
Das Opfer hatte einen dumpfen Schmerz in der Bauchgegend verspürt, aber keine Verletzung davongetragen – offenbar, weil es eine dicke Jacke trug. Der Freundin gelang es, den Angreifer niederzuringen und das Messer auf den Hof zu werfen. Karl S. bestätigt den Hergang, erkennt die Tatwaffe wieder, die Richter Christiani mit einem blauen Plastikhandschuh aus der Schutzbox genommen hat. „Ich habe das nur gemacht, weil mir eine Stimme im Kopf das befohlen hat“, sagt er noch einmal. „Es tut mir leid.“
Vor sich auf dem Tisch hat der Beschuldigte, wie er im Unterbringungsverfahren im Gegensatz zu einem Angeklagten genannt wird, ein blaues Taschenbuch liegen. Titel: „Wasserkristalle – was uns Wasser zu sagen hat und wie es uns beeinflusst“. Das Büchlein von Masaro Emoto ist derzeit seine Lektüre. In der Psychiatrie, so klagt er, könne er „nichts anderes machen als lesen, lesen, lesen“. Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt.