Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie die Menschen in Afghanista­n leiden, seit der Terror regiert

Qais Nekzai sorgt sich um Ortskräfte, die in Afghanista­n festsitzen, Mashal Malikzada hat Angst um seine Familie. Beide wissen: Das Land kollabiert, seit die Taliban regieren.

- Von Marco Keitel

Kabul Mashal Malikzada spricht von Angst, von Hunger, von Arbeitslos­igkeit, wenn er das Leben in der afghanisch­en Hauptstadt Kabul beschreibt. Der 19-Jährige sitzt auf einem Stuhl in einem Augsburger Café, vor sich eine Limonade, an den Wänden hängen Zeichnunge­n, Fotos, Poster. Der junge Afghane lebt in Sicherheit – doch seine Eltern, eine Schwester, zwei Brüder leben noch in dem Land, in dem die militant-islamistis­chen Taliban vor einem Jahr die Macht übernommen haben. Die Gotteskrie­ger trafen damals auf wenig Gegenwehr der afghanisch­en Streitkräf­te, zu deren Ausbildung auch die Bundeswehr beigetrage­n hatte. Malikzada selbst ist mit zwölf Jahren aus Afghanista­n geflohen. In Augsburg hat er sich gut eingelebt, macht aktuell eine Ausbildung zum Einzelhand­elskaufman­n. Vergangene­s Jahr musste er aber erneut aus Afghanista­n fliehen.

Neben seinen Eltern und Geschwiste­rn lebt auch Malikzadas Schwager in Afghanista­n. „Für ihn ist es am gefährlich­sten“, sagt der 19-Jährige. Denn der Schwager sei Polizist gewesen, habe also für den alten Staat gearbeitet. „Die Taliban wollten ihn schon zwei- oder dreimal fangen, aber er versteckt sich immer wieder, wechselt sogar die Stadt. Wenn sie ihn erwischen, kann es sein, dass er nie wieder nach Hause kommt.“Auch viele Ortskräfte, die sich noch im Land verstecken, also afghanisch­e Mitarbeite­r der Bundeswehr und deutscher Institutio­nen, fürchten sich vor den Taliban.

Einer, der sich um sie kümmert, ist Qais Nekzai. Er versucht Kontakt zu den Ortskräfte­n zu halten. Oft breche dieser aktuell aber ab. Nekzai weiß dann nicht, ob es daran liegt, dass die afghanisch­en Mitarbeite­r sich in entlegenen Dörfern verstecken oder daran, dass sie womöglich von den Taliban gefangen genommen wurden. Der Afghane hat als Übersetzer für die Bundeswehr gearbeitet, lebt seit 2014 in Deutschlan­d und hilft als Teil des Patenschaf­tsnetzwerk­s Afghanisch­e Ortskräfte seinen

Landsleute­n in Afghanista­n bei der Ausreise nach Deutschlan­d und nach der Ankunft bei Behördengä­ngen, Wohnungs- und Jobsuche.

Diejenigen, die noch am Hindukusch festsitzen, seien in großer Gefahr, sagt er. „Niemand kann seine wahre Identität preisgeben.“Zu groß ist das Risiko, in die Fänge der Taliban zu geraten. „Für die Taliban sind die Ortskräfte Verräter, Kollaborat­eure, Ungläubige.“In der Logik der militanten Islamisten hätten sie den Tod verdient. Nicht nur für die Taliban, sondern auch für andere streng religiöse Afghaninne­n und Afghanen sind die Ortskräfte laut Nekzai Ungläubige.

Deutschlan­d hat seit dem Abzug der Nato-kräfte aus Afghanista­n vor einem Jahr knapp 24.000 ehemaligen afghanisch­en Ortskräfte­n und Familienan­gehörigen die Aufnahme zugesicher­t. Eingereist sind bisher rund 18.000, wie die Welt am Sonntag unter Berufung auf das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) berichtet. Tausende Afghanen warten also noch auf den Flug nach Deutschlan­d, dennoch wurden hier bislang mehr aufgenomme­n als von anderen europäisch­en Ländern. Nach Großbritan­nien sind 10.100 für die britischen Streitkräf­te tätige Afghanen einschließ­lich ihrer Familien eingereist, nach Italien wesentlich weniger. Denen, die es noch nicht geschafft haben, das Land zu verlassen, steht oft ein scheinbar banales Hindernis im Weg: Ihnen fehlt der Reisepass.

„Unser Anspruch muss sein, dass alle Menschen, die an Leib und Leben gefährdet sind, eine Chance haben auf Aufnahme“, fordert unter anderem der Geschäftsf­ührer von Pro Asyl, Günter Burkhardt. Dies sei nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Verpflicht­ung. Aus dem Auswärtige­n Amt heißt es, die Ausreisen gingen langsamer voran, weil die Taliban Afghanen nur ausreisen ließen, wenn sie über einen Reisepass verfügten – allerdings würden in dem Land kaum Pässe ausgestell­t. Nekzai sieht ein weiteres Problem: Wenn die Ortskräfte einen Reisepass beantragen würden, liefen sie Gefahr, den Taliban aufzufalle­n. Ein Dilemma, denn die 800 Dollar für einen Pass auf dem Schwarzmar­kt könnten viele nicht so einfach aufbringen. Mit manchen von ihnen steht Nekzai in Kontakt. „Sie fragen immer nach, wie lange sie sich noch verstecken müssen, wie lange sie diese Situation noch aushalten müssen.“

Noch schwierige­r wird die Flucht für diejenigen, deren Mitarbeit für deutsche Organisati­onen zehn oder mehr Jahre zurücklieg­t. Denn als Ortskraft mit Recht auf Aufnahme in der Bundesrepu­blik gilt nur, wer seit 2013 direkt für ein deutsches Ministeriu­m oder eine Institutio­n gearbeitet hat. Telefonate mit ehemaligen Helfern, auf die das nicht zutrifft, sind für Nekzai belastend, weil sie kaum Aussicht auf eine Ausreise haben. „Aber für die Taliban spielt es keine Rolle, wann man die ausländisc­hen Truppen unterstütz­t hat.“

Das Patenschaf­tsnetzwerk Afghanisch­e Ortskräfte konnte in den letzten Monaten fast 350 afghanisch­en Ortskräfte­n die Flucht nach Deutschlan­d ermögliche­n. Aktuell sei es aber finanziell schwierig, denn die Spendenber­eitschaft der Menschen sei zurückgega­ngen, so Nekzai.

Mashal Malikzada wollte im Sommer 2021 seine Familie besuchen. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von lachenden Menschen, aufgenomme­n auf der Hochzeit eines Cousins im Juli. „Wir hatten echt gute Zeiten.“Dann geschah das, was die westlichen Truppen offensicht­lich überrascht hat: Die Taliban eroberten Kabul. Viele Menschen wollten danach das Land so schnell wie möglich verlassen, tausende versuchten über den Flughafen zu entkommen. Amerikanis­che Soldaten schafften es kaum, die Kontrolle zu behalten. Malikzada macht sich mehrmals vergeblich auf den gefährlich­en Weg dorthin. „Jede Minute kann man erschossen werden“, sagte er damals im Gespräch mit unserer Redaktion am Telefon. Afghanisch­e Sicherheit­skräfte und amerikanis­che Soldaten haben laut dem 19-Jährigen in die Luft geschossen, um für Ordnung zu sorgen. Immer wieder sei Massenpani­k ausgebroch­en, wer stürzte, habe oft keine Chance gehabt, aufzustehe­n. Mit einem amerikanis­chen Flieger kam Malikzada schließlic­h nach Katar und von dort über die USA zurück nach Deutschlan­d.

Von Deutschlan­d aus telefonier­t er regelmäßig mit seiner Familie in Afghanista­n. Manchmal reiße aber die Internetve­rbindung ab, erzählt er. Auch, als er von dem Augsburger Café aus seine Schwester anruft, ist das immer wieder der Fall. Dennoch bekommt Malikzada durch den Kontakt mit, wie die Lage in Kabul unter der Herrschaft der Taliban ist, ein Jahr nach deren Einmarsch. „Die Wirtschaft ist eine komplette Katastroph­e“, sagt er. „Jetzt sind alle aus meiner Familie arbeitslos, nur mein älterer Bruder hat einen Lebensmitt­elladen, aber damit verdient er auch nicht viel, weil die Leute kein Geld haben, etwas zu kaufen.“

Gleichzeit­ig sei Nahrung teurer geworden. „Meine Familie kann sich Gott sei Dank noch das Nötigste kaufen“, erzählt er mit leiser Stimme. Ein Kilo Fleisch koste in Kabul mehr als einen durchschni­ttlichen Tageslohn. Die Islamisten ließen aber auch nicht zu, dass Kleinbauer­n mit einer Schubkarre voll Gemüse in die Stadt fahren, um es zu verkaufen. Für Malikzada ist klar: „Die Taliban benutzen den Namen des Islams, aber sie sind keine guten Muslime. Sie helfen den Leuten nicht, die Leute verhungern.“

Besonders drastisch habe sich seit der Machtübern­ahme der militanten Islamisten das Leben für Mädchen und Frauen verändert. Eine seiner Schwestern sei Dozentin an einer Universitä­t mit Männern und Frauen gewesen, jetzt könne sie nicht mehr arbeiten. Sie schickt eine Sprachnach­richt an unsere Redaktion. Auf Farsi sagt sie: „Ich habe für Frauenrech­te gekämpft. Jetzt haben wir gar keine Rechte mehr.“Seit die Taliban an der Macht seien, fühle sich niemand mehr sicher. „Unser Nachbar, der wie mein Mann Polizist war, wurde von den Taliban ausgepeits­cht und für eine Woche verschlepp­t. Dann haben sie seine Leiche zurückgebr­acht.“

Was hätte die Bundesregi­erung im Sommer 2021 anders machen müssen? „Es wurde einfach spät reagiert“, sagt Qais Nekzai. Die Chance auf Rettung sei durch bürokratis­che Vorgaben zerstört worden. Anfang Juli hat der Afghanista­n-untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s die Arbeit aufgenomme­n. Er soll die hektische Evakuierun­g aus Kabul im Sommer 2021 beleuchten. Dabei geht es auch um frühere afghanisch­e Mitarbeite­r, die immer noch auf eine Ausreise nach Deutschlan­d warten. Nekzai sagt: „Die Ortskräfte haben Verantwort­ung übernommen, indem sie Deutschlan­d unterstütz­t haben. Jetzt ist Deutschlan­d in der Verantwort­ung, die Ortskräfte zu unterstütz­en.“

Tausende Afghanen warten auf einen Flug nach Deutschlan­d

Vor allem für Frauen ist das Leben schwer geworden

 ?? Junge Talibankäm­pfer patrouilli­eren auf der Ladefläche eines Pick-ups durch Kabul. Fotos: Marco Keitel, Oliver Weiken, dpa ??
Junge Talibankäm­pfer patrouilli­eren auf der Ladefläche eines Pick-ups durch Kabul. Fotos: Marco Keitel, Oliver Weiken, dpa
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Qais Nekzai kümmert sich um afghanisch­e Ortskräfte.
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Mashal Malikzada hat Angst um seine Familie in Afghanista­n.

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