Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Verzicht ist ein Vorbote der Kriegswirt­schaft

Leitartike­l Die Bürger sollen Energie sparen. Und die Lage ist tatsächlic­h ernst: Nach zwei Corona-wintern drohen neue gesellscha­ftliche Verwerfung­en.

- Von Richard Mayr

Bei denen, die im Überfluss leben, sich ums Geld keine Gedanken machen müssen, ist Verzichten zu einer periodisch wiederkehr­enden Lifestyle-tat geworden: mal auf den Alkohol, mal auf Süßes. Beides Verzicht auf die Verführung des Ungesunden. Man verzichtet auch auf den Flug in den Urlaub oder bewusst auf das Auto und greift zum Rad oder benutzt die Bahn oder läuft. Verzicht also für das größere Ganze, Verzicht für die Umwelt. Und wer kein Fleisch, keinen Fisch, keine Milchprodu­kte isst, verzichtet auch, dem Tierwohl zuliebe. Verzicht als etwas, das uns vom Überfluss befreit, Verzicht, der uns ein Gefühl der Selbstzufr­iedenheit bereitet. Alles gut also, wenn die Bundesregi­erung die Bevölkerun­g aufs große Energiever­zichten einschwört?

Mitnichten. Denn allen oben genannten Formen des Verzichts ist ja gemeinsam, dass sie uns nicht von staatliche­r Seite aufgezwung­en werden, dass sie privater Natur sind. Und: Dass das, worauf verzichtet wird, im Übermaß vorhanden ist. Ganz anders verhält es sich mit dem Gas – und im Zug stark steigender Preise auch dem Öl. Der Ernst der Bundesregi­erung ist angebracht. Es handelt sich um eine Warnung, wie sie hierzuland­e lange nicht mehr zu hören war: Bald könnte es zu einem Rohstoffma­ngel kommen, noch dazu dem Mangel eines entscheide­nden Stoffs: Erdgas, wichtig für die Industrie, wichtig auch für die Stromerzeu­gung, wichtig für den Übergang in eine kohlendiox­idfreie Wirtschaft, wichtig für Abermillio­nen Privathaus­halte.

Für diejenigen, die keine Angst haben, sich die Energie zum Heizen nicht mehr leisten zu können, heißt Verzichten in diesem Winter, dass sie nicht ganz so viel Mehrkosten zu schultern haben. Für diejenigen allerdings, die jetzt schon am Ende eines jeden Monats schauen müssen, ob das Geld noch langt, bedeutet das etwas vollkommen anderes: Dann wird es mit einem Grad weniger Raumtemper­atur und nur noch kalten Duschen nicht getan sein, dann muss auch anderswo gespart werden, um die Gasrechnun­g weiter zu bezahlen.

Aber wo bitteschön soll anderswo sein, wenn zum Beispiel die monatliche Durchschni­ttsrente von Rentnerinn­en, die in der Bundesrepu­blik gelebt und gearbeitet haben, 741 Euro beträgt. Am Essen? An den wenigen Fahrten mit den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln? An den Arzneimitt­eln, die bezahlt werden müssen? An den vier Nachmittag­en im Café, an denen man sich mit Bekannten trifft? Oder an der Miete? Denn zusätzlich zu den hohen Energiekos­ten muss ja auch noch eingerechn­et werden, dass die Inflation extrem hoch ist, manche Ökonomen glauben, dass sie im Oktober weiter ansteigen könnte.

Auf zwei Corona-winter, die für sich genommen alle Menschen unter eine maximale Anspannung gesetzt und das alte Leben aus den Angeln gehoben haben, folgt etwas, das das Zurücklieg­ende mit seiner Wucht noch übertreffe­n kann: Millionen Menschen in existenzie­llen Nöten, weil ihnen die Kosten zum Leben über den Kopf steigen, weil Gas fehlt. Deutschlan­d erlebt dann, was es heißt, wenn die Ökonomie nicht mehr den Regeln der langen Friedensze­it in Europa folgt, sondern in eine neue Form der Kriegswirt­schaft schlittert. Deutschlan­d wird auch erleben können, wie die zynische russische Propaganda in die Debatten einsickern wird, in der die Unterstütz­ung der Ukraine als riesiger Fehler dargestell­t wird. Der wurde allerdings früher begangen: in dem Augenblick, als man der Putin-diktatur vertraut hat.

Wo sparen? Am Essen, Arzneien oder an der Miete?

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