Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Verzicht ist ein Vorbote der Kriegswirtschaft
Leitartikel Die Bürger sollen Energie sparen. Und die Lage ist tatsächlich ernst: Nach zwei Corona-wintern drohen neue gesellschaftliche Verwerfungen.
Bei denen, die im Überfluss leben, sich ums Geld keine Gedanken machen müssen, ist Verzichten zu einer periodisch wiederkehrenden Lifestyle-tat geworden: mal auf den Alkohol, mal auf Süßes. Beides Verzicht auf die Verführung des Ungesunden. Man verzichtet auch auf den Flug in den Urlaub oder bewusst auf das Auto und greift zum Rad oder benutzt die Bahn oder läuft. Verzicht also für das größere Ganze, Verzicht für die Umwelt. Und wer kein Fleisch, keinen Fisch, keine Milchprodukte isst, verzichtet auch, dem Tierwohl zuliebe. Verzicht als etwas, das uns vom Überfluss befreit, Verzicht, der uns ein Gefühl der Selbstzufriedenheit bereitet. Alles gut also, wenn die Bundesregierung die Bevölkerung aufs große Energieverzichten einschwört?
Mitnichten. Denn allen oben genannten Formen des Verzichts ist ja gemeinsam, dass sie uns nicht von staatlicher Seite aufgezwungen werden, dass sie privater Natur sind. Und: Dass das, worauf verzichtet wird, im Übermaß vorhanden ist. Ganz anders verhält es sich mit dem Gas – und im Zug stark steigender Preise auch dem Öl. Der Ernst der Bundesregierung ist angebracht. Es handelt sich um eine Warnung, wie sie hierzulande lange nicht mehr zu hören war: Bald könnte es zu einem Rohstoffmangel kommen, noch dazu dem Mangel eines entscheidenden Stoffs: Erdgas, wichtig für die Industrie, wichtig auch für die Stromerzeugung, wichtig für den Übergang in eine kohlendioxidfreie Wirtschaft, wichtig für Abermillionen Privathaushalte.
Für diejenigen, die keine Angst haben, sich die Energie zum Heizen nicht mehr leisten zu können, heißt Verzichten in diesem Winter, dass sie nicht ganz so viel Mehrkosten zu schultern haben. Für diejenigen allerdings, die jetzt schon am Ende eines jeden Monats schauen müssen, ob das Geld noch langt, bedeutet das etwas vollkommen anderes: Dann wird es mit einem Grad weniger Raumtemperatur und nur noch kalten Duschen nicht getan sein, dann muss auch anderswo gespart werden, um die Gasrechnung weiter zu bezahlen.
Aber wo bitteschön soll anderswo sein, wenn zum Beispiel die monatliche Durchschnittsrente von Rentnerinnen, die in der Bundesrepublik gelebt und gearbeitet haben, 741 Euro beträgt. Am Essen? An den wenigen Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln? An den Arzneimitteln, die bezahlt werden müssen? An den vier Nachmittagen im Café, an denen man sich mit Bekannten trifft? Oder an der Miete? Denn zusätzlich zu den hohen Energiekosten muss ja auch noch eingerechnet werden, dass die Inflation extrem hoch ist, manche Ökonomen glauben, dass sie im Oktober weiter ansteigen könnte.
Auf zwei Corona-winter, die für sich genommen alle Menschen unter eine maximale Anspannung gesetzt und das alte Leben aus den Angeln gehoben haben, folgt etwas, das das Zurückliegende mit seiner Wucht noch übertreffen kann: Millionen Menschen in existenziellen Nöten, weil ihnen die Kosten zum Leben über den Kopf steigen, weil Gas fehlt. Deutschland erlebt dann, was es heißt, wenn die Ökonomie nicht mehr den Regeln der langen Friedenszeit in Europa folgt, sondern in eine neue Form der Kriegswirtschaft schlittert. Deutschland wird auch erleben können, wie die zynische russische Propaganda in die Debatten einsickern wird, in der die Unterstützung der Ukraine als riesiger Fehler dargestellt wird. Der wurde allerdings früher begangen: in dem Augenblick, als man der Putin-diktatur vertraut hat.
Wo sparen? Am Essen, Arzneien oder an der Miete?