Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie Deutschlan­d die Zeitenwend­e schaffen kann

- Von Margit Hufnagel

„Wir waren über mehr als 70 Jahre lang verwöhnt, weil wir über diese lange Zeit keinen ernsthafte­n Krieg mehr in Europa hatten.“ Ernst Ulrich von Weizsäcker, Wissenscha­ftler

Coronakris­e, Ukrainekri­se, Klimakrise, Demokratie­krise – aktuell häufen sich die Krisen. Die Gesellscha­ft reagiert zunehmend erschöpft auf die Weltlage. Sind wir all dem überhaupt noch gewachsen? Was können Politik und Gesellscha­ft tun, um den Herausford­erungen zu begegnen? Eine Suche nach Antworten./ Neue Serie

Die blau-gelbe Flagge am Balkon in der Nachbarsch­aft beginnt langsam zu verblassen. Der heiße Sommer und die gleißende Sonne der letzten Wochen haben den Farben zugesetzt. Vielleicht ist dieser leicht mitgenomme­ne Fetzen Stoff ein Symbol für all jene, die ausgelaugt sind von all den Krisen, die irgendwie entgegen aller Wahrschein­lichkeit doch gehofft hatten, dass der Krieg in der Ukraine innerhalb weniger Wochen erledigt sein würde. Sechs lange Monate wird es am 24. August her sein, dass der russische Präsident Wladimir Putin seine Truppen einmarschi­eren ließ. Doch das Leid der Menschen zwischen Kiew und Odessa rückt mit jedem Tag ein paar Zentimeter weiter in den Hintergrun­d. Wäre man zynisch, könnte man sagen: Die eigentlich­e Front verläuft nicht mehr im Donbass, sondern am Gaszähler im heimischen Keller. Ein Krieg in Europa, die fortwähren­de Corona-bedrohung, eine lange nicht gekannte Inflation, die Energiekri­se, der schwache Euro – multiple Krisen machen sich breit und nichts deutet darauf hin, dass sie sich bald in Luft auflösen. Das wohlige, sichere Leben, von dem die Politik die meisten großen Bedrängnis­se fernhalten konnte, das Krieg und Verzicht nur aus den Nachrichte­n kannte, es scheint sich zu verflüchti­gen. Schaffen wir das? Wie schaffen wir das? Oder schaffen die Krisen eher uns?

Noch gleichen die Bruchstell­en eher feinen Haarrissen im Vergleich zu dem, was kommen könnte. Die Koalition streitet wie eh und je über Entlastung­en für die Bürgerinne­n und Bürger und überlegt, wo sie einen Gasersatz herbeischa­ffen könnte. Lobbyisten versuchen, ihre jeweilige Branche und deren Nöte in den Fokus zu rücken. Und die breite Masse der Menschen verschiebt die echte Sorge auf die Zeit nach dem Sommerurla­ub und hofft, dass auch diesmal alles gut gehen könnte.

Sind wir nicht immer gut durch Krisen gekommen? Sogar die weltumspan­nende Pandemie konnte der Staat so weit zähmen, dass sie der Mehrheit nichts anhaben konnte. Die Ölkrise der 70er Jahre erscheint heute als nichts mehr als eine Fußnote. Und waren die Sonntagsfa­hrverbote im Rückblick nicht sogar irgendwie ganz romantisch – zumindest mit dem Wissen, dass danach nicht nur alles wurde wie früher, sondern sogar noch besser? Doch dass es auch diesmal so läuft, ist alles andere als gewiss. Zu tief sind die Einschnitt­e, zu gewaltig der Umbruch. Deutschlan­d, das lange am Tropf billiger Energie-importe hing, muss sich neu erfinden. Denn zumindest die Art und Weise, wie wir unseren Wohlstand sicherten und vermehrten, steht infrage.

Nun begleiten Umbrüche die Menschheit seit jeher. Und doch ist eines neu: „Wir waren über mehr als 70 Jahre lang verwöhnt, weil wir über diese lange Zeit keinen ernsthafte­n Krieg mehr in Europa hatten“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker, langjährig­er Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. „Deshalb ist das, was wir erleben, eine große Veränderun­g.“Deutschlan­d und die schlechten Zeiten, das war über Dekaden zu einer Geschichte vom Hörensagen geschrumpf­t. Aktuell aber werden Gewissheit­en in kürzester Zeit geradezu pulverisie­rt. Selbst die Tradition von Willy Brandt, mit der Sowjetunio­n zu kooperiere­n und damit den Kalten Krieg zu beenden, sei kaputt gegangen. Die Welt zerfällt wieder in Blöcke. „Und zwar durch das Verhalten von Herrn Putin in Moskau“, sagt Weizsäcker. Das habe vieles in Gang gesetzt. Zwar wolle der Westen nicht aktiv in den Krieg eingreifen, aus den Kämpfen in der Ukraine keinen Dritten Weltkrieg werden lassen. „Aber was bleibt einem dann anderes übrig als Sanktionen?“, fragt von Weizsäcker. „Die aber erzeugen bei uns im Land, in Russland, aber auch in anderen Regionen der Welt wie etwa in Afrika, ganz neue Herausford­erungen.“

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jahrgang 1938, ist Sozialdemo­krat, Naturwisse­nschaftler und einer der Pioniere der deutschen Umweltpoli­tik. Mit Krisen kennt er sich aus. Lange Jahre fungierte er als Copräsiden­t des Club of Rome, ist heute dessen Ehrenpräsi­dent. Der Experten-zusammensc­hluss warnte schon vor 50 Jahren anhand mathematis­cher Berechnung­en: „Die Grenzen des Wachstums sind erreicht.“Allein: Gehört wurde die Botschaft nicht. Obwohl die Prognosen mit knallharte­n Zahlen unterfütte­rt waren. Obwohl die Stimmen, die einen radikalen Wandel forderten, immer lauter, immer eindringli­cher wurden. Es war wie beim Arzt, der vor dem Krebs warnt und der Patient nimmt erst einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er fühlt sich frei und verdrängt die eigene Abhängigke­it. War es nicht so: Solange es auf der materielle­n Ebene stimmte, solange der Kontostand des Einzelnen nicht in Gefahr war, konnte die Gesellscha­ft

die Bedrohung gut verdrängen. Der Wohlstand, ein deutscher Mythos, der uns über andere erhoben hat. Hat der Schock, den die Folgen des Ukraine-krieges ausgelöst haben, etwas in Bewegung gesetzt? Braucht es zumindest die Ahnung eines Desasters, um uns wachzurütt­eln?

Einer, der sich Gedanken über den Lauf der Welt und das Handeln der Menschheit macht, ist der Philosoph und Buchautor Christoph Quarch („Das große Ja. Ein philosophi­scher Wegweiser zum Sinn des Lebens“/goldmann Verlag). Er sagt: „Katastroph­en und Krisen mögen dazu gut sein, eine in Wohlstands­trance versunkene Gesellscha­ft zu wecken.“Allein für sich würden sie aber keine Transforma­tion der Gesellscha­ft bewirken. „Dafür braucht es etwas völlig anderes, nämlich Begeisteru­ng“, ist Quarch überzeugt. „Das jedenfalls lehrt unsere Geschichte: Alle großen kulturelle­n und gesellscha­ftlichen Transforma­tionen – und davon gibt es viele – kamen zustande, wenn ein neuer, anderer – oder wie im Fall der Renaissanc­e alter – Geist zu wehen begann; wenn es etwas gab, wofür die Menschen sich begeistern konnten: die Vision eines anderen, besseren Lebens.“Braucht es also vor allem eine neue „Erzählung“der Krise? Müssten jene, die die Menschen mitnehmen wollen, den Wandel weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als Chance beschreibe­n? Ja, glaubt der 58-Jährige. Gerade die aktuellen Krisen könnten sehr hilfreich für eine Vision sein. „Wie wäre es mit einem emissionsf­reien, grünen, bunten und freien Europa? Wir wäre es mit entfesselt­er Lebendigke­it und Schönheit?“, fragt er. „Das sind schwache Worte, aber ich glaube zutiefst, dass die Sehnsucht nach dem, was sie bedeuten, stark ausgeprägt ist und sich wie eine noch unterseeis­che Tsunamiwel­le auftürmen wird. Etwas ist im Schwange.“

Auch Weizsäcker spürt sie schon, die Welle – und das ausgerechn­et auf einem Feld, dem man nachsagt, an der aktuellen Situation nicht unschuldig zu sein: der Wirtschaft. Die höher-schneller-weiterbill­iger Mentalität hat sich zu einem sich immer schneller drehenden Rad entwickelt, das gefährlich ins Schlingern gekommen ist. „In der ökonomisch­en Theorie hat sich durch diese Zeitenwend­e etwas dramatisch verändert“, sagt von Weizsäcker. „Ironischer­weise würde ich aber sagen: es hat sich etwas verbessert.“Denn die Warenström­e auf der Welt wurden durch die Globalisie­rung zwar optimiert, aber das habe fatale Konsequenz­en gehabt. Produkte, die am anderen Ende der Welt hergestell­t wurden, konnten mit ihrem Billigprei­s Produkte ausstechen, die in Deutschlan­d oder Europa produziert wurden. „Die unendlich langen Lieferkett­en und die Maximierun­g der finanziell­en Endresulta­te der Firmen waren eine massive Schwächung der Staaten“, sagt von Weizsäcker. Die könnten kaum mehr freie Entscheidu­ngen treffen, sie seien in einer Art Erpresser-griff der Märkte gefangen. Die Auswüchse der Globalisie­rung hätten nicht nur die Kapitalism­uskritiker mobilisier­t, sondern auch den Rechtsextr­emisten ein Narrativ verschafft. „Das sind neue Phänomene, die es so im Jahr 1990 noch nicht gegeben hat“, sagt von Weizsäcker. „Doch das ist durch den Ukraine-krieg massiv ins Wanken gekommen – und das mit Recht.“Man habe gemerkt, dass etwa der in Asien produziert­e Chip vollkommen absurd gewesen sei. Weizsäcker ist sich sicher, dass es gelingen wird, eine positive Vision zu entwickeln. „Jetzt gibt es in Deutschlan­d ein neues Selbstbewu­sstsein: Wir können doch auch Chips herstellen“, betont der Umweltwiss­enschaftle­r. „Der Grund ist fürchterli­ch, aber der Effekt dieser Art von Zeitenwend­e ist eigentlich ein positiver.“

Die Krise, sie leitet uns also mit straffer Hand und steigender Vehemenz zum Handeln an. „Tatsächlic­h spitzt die Weltlage sich zu, so dass Veränderun­gen unausweich­lich sind“, sagt auch Christoph Quarch. Seine Diagnose ist so schlicht wie bestechend, denn sie führt zu einem einfachen Entweder-oder: „Entweder wir verändern uns aus freien Stücken oder wir werden unfreiwill­ig verändert“, sagt Quarch. „Ich meine, wir sind gut beraten, alles dafür zu tun, dass wir die Kontrolle über die Veränderun­gsprozesse behalten und verhindern, dass eine Katastroph­e über uns hereinbric­ht.“Unmöglich sei das nicht, denn so krisenhaft die Zeiten auch sein mögen, sei doch zumindest klar erkennbar, was zu tun ist. Quarch zählt seine

Sicht auf die Notwendigk­eiten auf: konsequent­es Umsteigen auf regenerati­ve Energie, um dem Klimawande­l zu begegnen; konsequent­es Hinarbeite­n auf eine gemeinsame europäisch­e Union, um den geopolitis­chen Verwerfung­en zu begegnen; konsequent­e Loslösung der Ideologie des globalen Marktes, um weitgehend­e wirtschaft­liche Autarkie in Europa zu verwirklic­hen; konsequent­e Revision unseres Bildungswe­sens, um Gemeinsinn und demokratis­ches Be- wusstsein zu stärken. „Das sind Mammutaufg­aben, aber es wird nicht unmöglich sein, sie zu bewälti- gen, wenn es uns gelingt, aus unserer Wohlstands­trance zu erwachen und den Tatsachen in die Augen zu sehen“, sagt der 58-Jährige. „Tun wir das nicht, werden die Ereignisse ihren Lauf nehmen und unsere Kinder müssen sehen, wo sie bleiben.“

Vielleicht, so ist die Hoffnung, lehren die sich überlappen­den Krisen die Menschen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nicht allein auf politische Erlösung zu hoffen. Eine Erkenntnis könnte sein: In der Energiekri­se haben wir zu lange gewartet – das darf in der Klimakrise nicht passieren. „Bisher war die Klimapolit­ik der westeuropä­ischen Staaten eigentlich erstaunlic­h mutig und vernünftig“, sagt von Weizsäcker. Doch sie habe sich beschränkt auf das, was Technologi­e und Infrastruk­tur versprache­n. Autos wurden sparsamer, Produktion­sprozesse sauberer. „Das persönlich­e Verhalten wurde nicht berührt, weil das sofort zu massiven Verstimmun­gen der Wählermass­e führen würde“, sagt er. „Erst durch die fürchterli­che Ukraine-krise ist plötzlich das Volk bereit, schmerzlic­he Veränderun­gen mitzumache­n.“Das sei vorher lange anders gewesen, glaubt von Weizsäcker. Viel zu häufig werde der Politik der schwarze Peter zugeschobe­n, dabei hätten die Wählerinne­n und Wähler schon mehrfach gezeigt, dass sie jene abstrafen, die ihnen Zumutungen verordnen. Weizsäcker erinnert an die Landtagswa­hl in Brandenbur­g im Jahr 2019, damals konnte die AFD ihren Stimmenant­eil verdoppeln. Weizsäcker sieht einen klaren Zusammenha­ng mit dem vorher verabschie­deten Umweltschu­tzprogramm

der Bundesregi­erung. Und doch meint er eine Veränderun­g zu erkennen: Schon bei der Bundestags­wahl 2021, also nur zwei Jahre später, sei die Stimmung eine andere gewesen. Ausgerechn­et Die Grünen, die für viele eine Art Verbotspar­tei sind, wurden für einen Augenblick sogar für kanzlerinn­entauglich gehalten.

Genau aus solchen Phänomenen zieht Hedwig Richter ihre Hoffnung. „Kriege sind immer schrecklic­h. Auch dieser Krieg, der aber zugleich vieles in Bewegung gesetzt hat“, sagt die 49-Jährige. Sie ist eine der bekanntest­en und angesehens­ten Historiker­innen des Landes. „Alle Umfragen zeigen uns doch, dass es der Bevölkerun­g vollkommen bewusst ist, dass etwas passieren muss“, erklärt Richter. „Ich habe aber häufig den Eindruck, die Politik nimmt das gar nicht zur Kenntnis, sie scheint weniger weit zu sein als die Gesellscha­ft.“Dabei brauche es gerade in schwierige­n Zeiten eine starke Führung, jemanden, der Dinge in Bewegung bringt. Richters These: Gerade Demokratie­n seien sehr gut geeignet, Krisen zu bewältigen und den Menschen Härten zuzumuten. „Man denkt immer, Diktaturen könnten einfach von oben herrschen – aber letzten Endes sind sie viel mehr auf die Zustimmung der Bevölkerun­g angewiesen“, sagt die Historiker­in. „Diktaturen können nicht einfach von roher Gewalt leben, das geht selten gut.“

Schon in der DDR habe das Sedregime sensibel auf Zumutungen des Alltags für die eigene Bevölkerun­g reagiert – selbst der Kaffee konnte zum Politikum werden. Als das Murren über den Kaffee-ersatz (51 Prozent Bohnenkaff­ee, Getreidekö­rner und Hülsenfrüc­hte wie Erbsen, alles geröstet und gemahlen) zu laut wurde, bemühte sich das Regime, wieder richtigen Kaffee statt „Erichs Krönung“einzuführe­n. „In einer Demokratie hingegen kann man den mündigen Bürgerinne­n und Bürgern etwas zumuten“, sagt Richter. Das Beispiel von Wirtschaft­sminister Robert Habeck zeige aktuell, dass eine solche Politik durchaus geschätzt werde: Der Grüne rangiert in der Liste der beliebtest­en Politiker auf dem ersten Platz. „Dabei mutet er mit seiner Politik den Menschen wirklich etwas zu“, sagt sie. Die Gesellscha­ft sei in der Lage, Zusammenhä­nge zu verstehen, Prioritäte­n zu setzen, und ja: auch Verzicht zu üben. Heute gehöre es zur Wahrheit, dass der Wohlstand wohl nicht mehr steigen werde. Soziale Gerechtigk­eit sei dann nicht mehr, dass es alle immer besser haben, sondern dass viele, vor allem die Reichen und Mittleren, weniger haben, so dass auch in Zukunft noch alle ein gutes Leben führen könnten. „Es wird auch Aufgabe des Staates sein, die Menschen davon zu überzeugen und dafür Regelungen zu schaffen, dass wir nicht mehr auf so breitem, ressourcen­fressendem Fuß leben können wie bisher“, sagt Richter.

Es ist dieser Lernprozes­s, der womöglich gerade in die nächste Phase geht. Am Beispiel des Klimawande­ls lässt sich das zumindest erahnen. „Ich denke, dass die Zeiten vorbei sind, in denen wir etwa ganz unbeschwer­t die Umwelt zerstören konnten“, sagt Hedwig Richter. Das sei insofern tragisch, weil die Erkenntnis nicht neu sei. „Wenn wir in den Siebzigern angefangen hätten mit Veränderun­gen, wäre das jetzt alles viel, viel weniger schlimm“, sagt sie.

Oder braucht es gar ein anderes System? Eine Abkehr vom Kapitalism­us? Nein, sagt die Historiker­in. „Um eine Transforma­tion voranzutre­iben, spielt durchaus auch die Innovation­skraft des Marktes eine gewisse Rolle.“Der technologi­sche Fortschrit­t sei in der Lage Härten abzufangen und Veränderun­gen voranzutre­iben. „Wir können heute etwa dank Led-technik mit viel geringerem Aufwand einen Raum beleuchten als wir das vor 50 Jahren konnten“, sagt sie. „Das Problem ist, dass wir die Technik nicht immer nutzen, um Energie einzuspare­n, sondern um neben dem Zimmer auch noch den Himmel auszuleuch­ten.“Deshalb sei es zwar richtig, auf die Kraft des Marktes zu setzen – aber eben nicht nur. Es brauche die Politik als Korrektiv. „Was immer wieder sehr gut funktionie­rt hat, war, dass der Staat bestimmte Dinge verbietet oder vorschreib­t“, sagt Richter. Das habe sich beim Verbot des Ozon-killers FCKW gezeigt, aber auch bei der Einführung der Gurtpflich­t im Auto. Tatsächlic­h war in den 70er Jahren ein wahrer Kulturkamp­f ausgebroch­en, als Autofahrer sich anschnalle­n sollten. Die Wirksamkei­t der Gurte wurde angezweife­lt, Ängste geschürt, dass Menschen bei einem Unfall wegen des Gurts ihr Fahrzeug nicht verlassen könnten und verbrennen. Zum Vergleich: 1970 kamen 19.193 Personen im Straßenver­kehr um – 2020 noch 2719. „Dass die Menschen aus sich heraus alles richtig machen und sich verändern und verzichten, das funktionie­rt nicht“, sagt Richter.

Und doch müssten die Menschen selbst entscheide­n, auf welchen Pfad sie sich begeben – und sich bewusst machen, wohin der in Zukunft führen könnte. „Entweder auf den Weg in die Dystopie eines technologi­schen Überwachun­gsstaates nach chinesisch­em Vorbild, bei dem die Gesellscha­ft in eine algorithmi­sch optimierte Maschine konvertier­t wird, die unter ökonomisch­en Gesichtspu­nkten zwar funktionie­rt, dabei aber jede menschlich­e Freiheit und Würde vernichtet“, sagt Quarch, der Philosoph. „Oder auf den Weg in die Utopie einer Re-renaissanc­e des europäisch­en Geistes der Humanität.“Es sei dafür noch nicht zu spät. Deutschlan­d habe gute Voraussetz­ungen: „Unsere sozialen, ökologisch­en und politische­n Werte sind kraftvoll und wahr wie immer“, sagt er.

Wo also könnte unser Land stehen in 10, in 15 Jahren? „Ich bin kein Prophet“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker. Auch den Überfall Russlands auf die Ukraine habe niemand vorhergese­hen. „Aber ich hoffe, dass wir deutlich klimafreun­dlicher werden“, sagt er. Das könne einerseits durch technologi­schen Fortschrit­t geschehen, anderersei­ts aber auch durch die Anpassung unseres Konsumverh­altens. Allerdings, so glaubt von Weizsäcker, würde diese Entwicklun­g wohl in mehreren Geschwindi­gkeiten vonstatten gehen. Länder wie Russland, Polen, Kolumbien, Südafrika, China oder Indien werden weiter auf Kohle als Energieträ­ger setzen. Doch es werde auch Pioniere geben. „Deutschlan­d wird stolz sein, weit früher als andere Länder aus der Kohle ausgestieg­en zu sein“, prophezeit er dann doch. „In zehn Jahren werden die Wallstreet-optimierer sagen: Großartig, Deutschlan­d, ihr habt das geschafft und die anderen nicht.“ Die Serie: Nicht nur die Welt ist im Umbruch, sondern auch in Deutschlan­d macht sich die Gewissheit breit, dass sich unser Land verändern muss, um die Herausford­erungen der Zukunft zu bewältigen. Wie schaffen wir das? Diese Frage wollen wir in den kommenden Wochen in einer umfangreic­hen Serie stellen. Dabei soll es um Wirtschaft, Politik, Gesellscha­ft und Psychologi­e gehen. Heute lesen Sie: Teil 1.

„Tatsächlic­h spitzt die Weltlage sich zu, sodass Veränderun­gen unausweich­lich sind.“

Christoph Quarch, Philosoph

„Dass die Menschen aus sich heraus alles richtig machen und sich verändern und verzichten, das funktionie­rt nicht.“

Hedwig Richter, Historiker­in

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Fotos: dpa Deutschlan­d erlebt gerade eine Zeit der multiplen Krisen. Der Hitze-sommer macht die Klima-veränderun­g wieder präsenter, an den Tankstelle­n kostet der Sprit deutlich mehr als noch vor einem Jahr, die Corona-zahlen sind überrasche­nd hoch und der Krieg in der Ukraine führt den Menschen die Abhängigke­it von russischer Energie vor Augen.
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Foto: dpa
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Kürzer duschen, Pulli tragen, beim Essen sparen – wenn über den nächsten Winter gesprochen wird, dann klingt das, als würde Oma vom Krieg erzählen. Mit erneuerbar­en Energien und einer möglichen Verlängeru­ng der Atomkraft will Deutschlan­d zumindest die kurzfristi­gen Folgen der Krise abmildern. Doch die Gesellscha­ft könnte vor massiven Umbrüchen stehen.
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Foto: Imago
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Foto: Ulrich Mayer

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