Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Sterbende hat nicht genug vom Leben
Schon der junge Brecht setzte sich intensiv mit dem Tod auseinander, 22-jährig schrieb er ein beeindruckendes Gedicht über die letzten Atemzüge eines Menschen. Und parodierte damit zugleich einen anderen großen Lyriker.
Der Tod ist ein Generalthema im Werk Brechts. Von den fünfzig Gedichten der „Hauspostille“, seines großen Augsburger Zyklus, gibt es kaum eines, das den Tod nicht in irgendeiner Form tangiert. Auch sonst tritt er immer wieder in den Vordergrund; nicht selten in außergewöhnlicher Form wie in „Ich beginne zu sprechen vom Tod“, 1920 entstanden.
Eine Besonderheit vorweg: Geht es in Dichtung um den Tod, wird oft, vielfach auch bei Brecht, die Frage nach dem Nachher gestellt. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Erlöst Gott den Menschen oder ist, in materialistischer Sichtweise, mit dem Tod alles vorbei? Nicht so in diesem Gedicht. Nüchtern ist der Titel, nüchtern nähert Brecht sich – „Ich beginne…“– dem Thema, um es zu einem Horrorszenario zu steigern.
In den ersten beiden Strophen teilt Brecht Einsichten mit. Er befasst sich mit dem Sterben, damit, was der Tod bedeutet, und mit den Ängsten, die die Menschen haben. Im Folgenden stellt er in schockierenden, doch realistischen Bildern schlaglichtartig einzelne Aspekte des Sterbens, des Todeskampfes, dar. Gut möglich, dass der Tod seiner Mutter dabei eine Rolle spielte, sie starb am 1. Mai 1920, also im Entstehungsjahr des Gedichts.
Dabei nimmt Brecht, von der Forschung nicht zur Kenntnis genommen, ein Gedicht Goethes aufs Korn. Dass er während seiner Augsburger Zeit gegen Goethes Lyrik mehrfach anschrieb, ist nichts Neues; man denke nur an die „Liturgie vom Hauch“aus der „Hauspostille“, in der Brecht Goethes „Ein Gleiches“zu desillusionieren versucht. Nun geht es um ein berühmtes Gedicht aus dem „West-östlichen Divan“. Nach einzelnen Seitenhieben, wie zum Beispiel im „Beschwerdelied“von 1916, ist dies Brechts bisher früheste nachweisbare bedeutendere Goethe-adaption überhaupt.
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: / Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; / Jenes bedrängt, dieses erfrischt; / So wunderbar ist das Leben gemischt. / Du danke Gott, wenn er dich preßt, / Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.
Im Ein- und Ausatmen sieht Goethe die göttliche Weltordnung gespiegelt, das permanente Miteinander von Gegensätzen, die sich harmonisch ergänzen. Der Mensch, dem Gott den Atem einhauchte, steht mit ihr im Einklang, auch dann, wenn er stirbt. Sanft wird er „entlassen“. In Einklang mit dem Schöpfungsplan und dankbar tut er seinen letzten Atemzug.
Mit Worten, genauso brillant gesetzt wie die Goethes, hält der 22-jährige Brecht dagegen: Das ist Unsinn, einer von vielen „Irrglauben“. „Weise“mag der sein, der sich einreden konnte, „mit dem Leben sterbend fertig“zu werden. Doch es ist anders. Der Sterbende wird nicht „genug“vom Leben haben – ein älteres Motiv der Augsburger Lyrik Brechts. Dieses Leben lassen zu müssen, treibt ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er zerstört Goethes beschauliches Bild vom Ein- und Ausatmen. Den göttlichen Odem haucht der Mensch nicht bewusst und friedlich aus, sondern er verröchelt elendiglich. Die Harmonie ist auf den Kopf gestellt. Das idealisierte Atmen zerlegt Brecht in Einzelteile: nicht einmal mehr um einen halben Atemzug handelt es sich beim Sterben. Der letzte nämlich bleibt dem Menschen buchstäblich im Halse stecken. Dies erinnert an ein weiteres Hauspostillen-gedicht, in dem der geschundenen Kreatur bei deren Beerdigung von den ihr liturgisch zustehenden „drei Händen Erde“eine verweigert wird. Nichts endet im Leben harmonisch, nichts wird fertig, nichts ist gut. Kein Grund also, dankbar zu sein; wem auch immer.
Nach dieser Einsicht fokussiert Brecht genüsslich Stationen, Einzelheiten des Sterbens, wobei er immer wieder auf Goethes „Atemidealismus“rekurriert. Es wird nicht friedlich geatmet, sondern der „Gaumen japst“. Brecht spielt damit auf die Schnappatmung kurz vor dem Tode an. Um dem Sterbenden das Atmen zu erleichtern, wurde gelegentlich ein Luftröhrenschnitt vorgenommen, heute ersetzt durch Intubation, künstliche Beatmung oder sedierende Medikamente.
Goethes göttliche Atmung wird damit ad absurdum geführt, der Sterbende pfeift qualvoll aus dem letzten Loch, ihm künstlich beigebracht, sein Leid zu lindern. Er nimmt das alles wahr, auch die um ihn herum, die heuchelnd weinen, aber leben, essen und Wein trinken können, die sein Leid vergrößern, weil er sie beneidet, und nur darauf warten, dass er endlich stirbt. Brecht greift dabei abermals auf ein Motiv aus dem Kosmos seiner frühesten Augsburger Lyrik zurück.
Das Gedicht erweckt den Eindruck, dass es unfertig ist. Zu erwarten wären weitere angsteinflößende Aspekte der Agonie und – vor allem – deren Ende, der Tod. Beides stellt der Autor nicht zur Verfügung. Bewusst bricht er ab, inmitten dieses Reigens von Sterbebildern. Brecht lässt den Leser alleine in seiner von ihm geschürten Angst. Er hat durch das bewusst Unfertige, wie der Atemzug im Tod plötzlich Abbrechende, die Fantasie geweckt. Dazu passt, dass Brecht seine Sentenzen nicht ein einziges Mal mit einem Punkt beendet; so, als käme noch etwas.
Ob man will oder nicht: Man malt sich weitere Schreckensszenarien aus, wird so möglicherweise um den Schlaf gebracht. Brecht, dem selbst, als er am 14. August 1956 starb, ein solcher Todeskampf erspart blieb, hätte sein Ziel erreicht.