Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Sempé war mehr als der Vater des „Kleinen Nick“
Mit zarten Strichen lockt er uns in eine bessere Welt: Der französische Zeichner schuf in seinem umfangreichen Werk zeitlose Figuren. Doch vor allem berührt er mit seinem liebevollen Blick auf die Menschen, die ihren Alltag würdevoll meistern. Ein Nachruf
Selbstvergessen, ja geradezu heiter hebt er seine Hände wie zum Flug und läuft los. Er lächelt. Warum nicht einfach kurz abheben? Hier am Strand. Mit dem Meeresrauschen im Hintergrund. Sich eine kleine Auszeit genehmigen von der Realität. Wieder Kind sein. Auch im fortgeschrittenen Alter.
In zarten Pastelltönen und mit wenigen feinen Strichen hielt Jeanjacques Sempé den Mann auf Papier fest. Es ist eine von unzähligen Zeichnungen, die aber vieles hat, was den französischen Künstler so auszeichnet: eine wunderbare Leichtigkeit, die nie ohne Melancholie daherkommt. Eine winzige alltägliche Szene, die doch eine berührende Geschichte erzählt.
Und Sempé war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Nicht mit Worten, er erzählte mit den liebevollen Schwüngen seiner Feder. Es sind zeitlose Geschichten von Menschen, die in den großen Metropolen Paris und New York, aber auch in der französischen Provinz zwar zuweilen auffallend klein wirken, dafür aber mit großer Würde ihr Leben meistern. Es sind oft die Sehnsüchte, die Glücksmomente, die festgehalten werden. So lenken gut behütete Menschen jeglichen Alters ihr Rad in unterschiedlichen Situationen mit großer Gelassenheit durch den Trubel der Zeit. Die sogenannten „kleinen“Angestellten, aber auch Ehepaare, wagen kurze Fluchten aus ihrem konformen Tagesablauf. Kinder zeigen mit ihrer Unbeschwertheit, ihrem Mut, auf was es ankommt. Seniorinnen und Senioren trotzen mit Neugierde, Charme und Humor dem Alter.
Und Sempé schuf unvergessene Figuren: Etwa den des Radfahrens unfähigen Fahrradhändler Paul
Tamburin, aber auch den passionierten Bistrobesucher Monsieur Lambert. Weltberühmt wurde er aber mit einer anderen Figur, ja mit der Erfindung einer ganzen Kindheit, mit dem „kleinen Nick“. Zusammen mit dem Asterix-autor René Goscinny, den er damals zufällig kennenlernte, entwickelte er vor über 50 Jahren eine ganze Galerie von Typen – etwa den superschlauen Brillenträger Adalbert oder den ewig mampfenden Otto – deren Abenteuer, immer wieder neu aufgelegt, bis heute begeistern und 2009 auch verfilmt wurden. Sempé selbst sagte einmal in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Der kleine Nick ist das Ergebnis eines Traums. Im kleinen Nick balgen sich die Kinder, aber sie tun sich nicht weh. Ich habe mich oft geprügelt und kann Ihnen sagen: Das tut sehr weh! Ich habe eine Traum-kindheit gezeichnet, die nicht existiert hat.“
Denn Sempés eigene Kindheit war tragisch. Geboren am 17. August 1932 in Bordeaux, wuchs er als Stiefsohn eines dem Alkohol sehr zugetanen Handelsvertreters auf. Die ewigen Streitereien der Eltern müssen unerträglich gewesen sein. Er schildert sie in einem Interview mit Marc Lecarpentier in dem wunderbaren Diogenes-bildband „Kindheiten“. Nach der Schule schlug sich Sempé mit Gelegenheitsjobs durch. Jazzmusiker, Barpianist oder Profifußballer wollte er werden. „Nur weil ich keinen vernünfti- gen Job gefunden habe, habe ich mich aufs Zeichnen verlegt. Es war einfacher, ein Blatt Papier zu finden als eine Lokomotive oder ein Klavier“, erzählte er. Statt selbst zu musizieren, zeichnete er zahlreiche Musikerinnen und Musiker. Dass er bald ein Meister seines Fachs war, zeigte sich auch an seinen vielen Titelbildern für das renommierte amerikanische Magazin
New Yorker. Doch er konnte auch kritischer, ein wenig böser sein: So zeichnet er in dem Band „St. Tropez“ein schonungsloses Bild der affektierten, gelangweilten Ferienwelt der Schönen und Reichen in den 60er Jahren.
In seinem Ferienort und nicht in Paris, wo er am liebsten war, ist Sempé nun kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Mit den Augen beobachtet hat er all die berührenden Szenen seiner Alltagshelden nie, hat er mal gesagt. „Sie finden nie eine lustige Zeichnung im Leben. Man muss sie immer erfinden.“Was für ein unermesslicher Verlust, dass er uns nicht mehr in seine faszinierenden Federwelten entführen kann. Wir hätten sie weiter so nötig.