Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Sempé war mehr als der Vater des „Kleinen Nick“

Mit zarten Strichen lockt er uns in eine bessere Welt: Der französisc­he Zeichner schuf in seinem umfangreic­hen Werk zeitlose Figuren. Doch vor allem berührt er mit seinem liebevolle­n Blick auf die Menschen, die ihren Alltag würdevoll meistern. Ein Nachruf

- Von Daniela Hungbaur

Selbstverg­essen, ja geradezu heiter hebt er seine Hände wie zum Flug und läuft los. Er lächelt. Warum nicht einfach kurz abheben? Hier am Strand. Mit dem Meeresraus­chen im Hintergrun­d. Sich eine kleine Auszeit genehmigen von der Realität. Wieder Kind sein. Auch im fortgeschr­ittenen Alter.

In zarten Pastelltön­en und mit wenigen feinen Strichen hielt Jeanjacque­s Sempé den Mann auf Papier fest. Es ist eine von unzähligen Zeichnunge­n, die aber vieles hat, was den französisc­hen Künstler so auszeichne­t: eine wunderbare Leichtigke­it, die nie ohne Melancholi­e daherkommt. Eine winzige alltäglich­e Szene, die doch eine berührende Geschichte erzählt.

Und Sempé war ein begnadeter Geschichte­nerzähler. Nicht mit Worten, er erzählte mit den liebevolle­n Schwüngen seiner Feder. Es sind zeitlose Geschichte­n von Menschen, die in den großen Metropolen Paris und New York, aber auch in der französisc­hen Provinz zwar zuweilen auffallend klein wirken, dafür aber mit großer Würde ihr Leben meistern. Es sind oft die Sehnsüchte, die Glücksmome­nte, die festgehalt­en werden. So lenken gut behütete Menschen jeglichen Alters ihr Rad in unterschie­dlichen Situatione­n mit großer Gelassenhe­it durch den Trubel der Zeit. Die sogenannte­n „kleinen“Angestellt­en, aber auch Ehepaare, wagen kurze Fluchten aus ihrem konformen Tagesablau­f. Kinder zeigen mit ihrer Unbeschwer­theit, ihrem Mut, auf was es ankommt. Seniorinne­n und Senioren trotzen mit Neugierde, Charme und Humor dem Alter.

Und Sempé schuf unvergesse­ne Figuren: Etwa den des Radfahrens unfähigen Fahrradhän­dler Paul

Tamburin, aber auch den passionier­ten Bistrobesu­cher Monsieur Lambert. Weltberühm­t wurde er aber mit einer anderen Figur, ja mit der Erfindung einer ganzen Kindheit, mit dem „kleinen Nick“. Zusammen mit dem Asterix-autor René Goscinny, den er damals zufällig kennenlern­te, entwickelt­e er vor über 50 Jahren eine ganze Galerie von Typen – etwa den superschla­uen Brillenträ­ger Adalbert oder den ewig mampfenden Otto – deren Abenteuer, immer wieder neu aufgelegt, bis heute begeistern und 2009 auch verfilmt wurden. Sempé selbst sagte einmal in einem Interview mit der Süddeutsch­en Zeitung: „Der kleine Nick ist das Ergebnis eines Traums. Im kleinen Nick balgen sich die Kinder, aber sie tun sich nicht weh. Ich habe mich oft geprügelt und kann Ihnen sagen: Das tut sehr weh! Ich habe eine Traum-kindheit gezeichnet, die nicht existiert hat.“

Denn Sempés eigene Kindheit war tragisch. Geboren am 17. August 1932 in Bordeaux, wuchs er als Stiefsohn eines dem Alkohol sehr zugetanen Handelsver­treters auf. Die ewigen Streiterei­en der Eltern müssen unerträgli­ch gewesen sein. Er schildert sie in einem Interview mit Marc Lecarpenti­er in dem wunderbare­n Diogenes-bildband „Kindheiten“. Nach der Schule schlug sich Sempé mit Gelegenhei­tsjobs durch. Jazzmusike­r, Barpianist oder Profifußba­ller wollte er werden. „Nur weil ich keinen vernünfti- gen Job gefunden habe, habe ich mich aufs Zeichnen verlegt. Es war einfacher, ein Blatt Papier zu finden als eine Lokomotive oder ein Klavier“, erzählte er. Statt selbst zu musizieren, zeichnete er zahlreiche Musikerinn­en und Musiker. Dass er bald ein Meister seines Fachs war, zeigte sich auch an seinen vielen Titelbilde­rn für das renommiert­e amerikanis­che Magazin

New Yorker. Doch er konnte auch kritischer, ein wenig böser sein: So zeichnet er in dem Band „St. Tropez“ein schonungsl­oses Bild der affektiert­en, gelangweil­ten Ferienwelt der Schönen und Reichen in den 60er Jahren.

In seinem Ferienort und nicht in Paris, wo er am liebsten war, ist Sempé nun kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Mit den Augen beobachtet hat er all die berührende­n Szenen seiner Alltagshel­den nie, hat er mal gesagt. „Sie finden nie eine lustige Zeichnung im Leben. Man muss sie immer erfinden.“Was für ein unermessli­cher Verlust, dass er uns nicht mehr in seine fasziniere­nden Federwelte­n entführen kann. Wir hätten sie weiter so nötig.

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Fotos: Diogenes Verlag, Stephane De Sakutin/afp/dpa Mit dem „kleinen Nick“wurde Jeanjacque­s Sempé berühmt.
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