Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden“
Noch 100 Tage bis zur Fußball-wm in Katar: Die Stadien und die U-bahn sind längst fertig. Doch die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter hat sich nicht entscheidend verbessert.
Doha Die Bauarbeiten der acht Stadien sind längst abgeschlossen. Die modernen Metro-linien in der Hauptstadt Doha sind seit Jahren in Betrieb. Und im Geschäftsbezirk „West Bay“eröffnen Hotels, Einkaufszentren und Firmenzentralen. Dieses Wachstum wäre ohne die Fußball-wm, die in einhundert Tagen beginnen soll, undenkbar gewesen. Eine entscheidende Frage ist: Hat der internationale Druck seit der Wm-vergabe vor zwölf Jahren den Alltag der Arbeitsmigranten erleichtert? „Es ist ein wichtiger Prozess eingeleitet worden“, sagt Dietmar Schäfers, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter Internationalen (BHI). „Auf den Wm-baustellen hat sich einiges verbessert. Aber dort, wo die Öffentlichkeit nicht so genau hinsieht, ist noch viel zu tun.“
Experten wie Schäfers sagen, dass in den ersten Jahren nach der Wm-vergabe wichtige Zeit für Reformen verloren gegangen ist. Die katarische Erbmonarchie duldet keine unabhängigen Medien, Gewerkschaften, NGOS (nicht staatliche Organisationen). Lange konzentrierten sich internationale Menschenrechtsorganisationen auf die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und die Fußballwm 2018 in Russland. Dennoch: Mit Kampagnen wie „Red Card for Fifa“richteten Gewerkschaftsbündnisse wie die IG Bau ihren Fokus allmählich auf Katar. Arbeitsorganisationen wie die International Labour Organization ILO reichten Beschwerden gegen Katar ein. Berichte von europäischen Medien oder Amnesty International veranlassten Sportsponsoren zu kritischeren Stellungnahmen mit Blick auf die WM 2022.
Im Zentrum der Kritik stand das so genannte Kafala-system, das in etlichen Staaten der Golfregion praktiziert wird. Als Bedingung für ihre Einreise erhielten die vorwiegend aus Südasien stammenden Arbeiterinnen und Arbeiter einen Bürgen, der ihre Reisepässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren, ihren Jobwechsel verhindern konnte. Offiziell zur Bekämpfung von Kriminalität, denn ihre Heimatländer haben meist keine Auslieferungsabkommen mit Katar. „Bereits 2015 hat die katarische Regierung behauptet, dass das Kafala-system abgeschafft wurde“, sagt die Aktivistin Binda Pandey, die sich für die Rechte nepalesischer Arbeitskräfte in Katar stark macht. „Tatsächlich wurden viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, aber häufig mangelt es an Umsetzung und Kontrolle.“
In den vergangenen sechs Jahren
hat das katarische Arbeitsministerium Richtlinien festgelegt, die europäischen Standards ähneln, zumindest auf dem Papier, etwa für Arbeitszeiten, Ruhephasen, Beschwerdemöglichkeiten. „Viele Arbeiter trauen sich nicht, gegen ihren Arbeitgeber juristisch vorzugehen“, sagt Binda Pandey. „Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden und gar kein Geld mehr verdienen.“In Nepal sind fast sechzig Prozent der Haushalte von Arbeitsmigration abhängig. Geldeingänge aus dem Ausland machen fast ein Drittel des BIP aus. Allein in Katar arbeiten rund 350.000 Nepalesinnen und Nepalesen.
Viele Arbeitgeber, die häufig eine familiäre Nähe zum Herrscherhaus haben, fühlen sich offenbar unantastbar. Und so dokumentieren NGOS wie Amnesty oder Human Rights Watch zahlreiche Verstöße gegen neue Gesetze. Vielfach werden Reisepässe einbehalten und zugesicherte Löhne nicht ausgezahlt. Vielfach bedrohen Arbeitgeber ihre Angestellten und hindern sie an der Wahrnehmung von Gerichtsterminen. Noch immer verlangen Rekrutierungsagenturen von den Arbeitern zum Teil horrende „Vermittlungsgebühren“, damit diese überhaupt eine Anstellung finden. Viele von ihnen leben in streng überwachten Unterkünften.
Inzwischen existieren in Katar „Streitschlichtungsausschüsse“, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitern vermitteln sollen. Die International Labour Organization ist mit einem Büro in Doha vertreten, auch Gewerkschaftsbünde sind für Inspektionen vor Ort, oftmals mit Vorankündigung. Es sind Bedingungen, die Nachbarstaaten wie Saudi-arabien nicht zulassen. Für Katar sind genaue Zahlen kaum prüfbar, aber inzwischen sollen mehr als 20.000 Arbeiterinnen und Arbeiter ihre ausgebliebenen Löhne erfolgreich eingeklagt haben. Im Land leben aber rund 2,5 Millionen Arbeitsmigranten, neunzig Prozent der Bevölkerung. „Die Ressourcen sind noch zu gering“, sagt Lisa Salza von Amnesty in der Schweiz. „Die Beschwerdestellen in Katar können die Klagen nicht in angemessener Zeit bearbeiten.“
Erkenntnisse wie diese lassen erahnen, dass sich die Lage nicht verbessert hat – im Gegenteil. Daher fordern Gewerkschaften, Fangruppen und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International von der Fifa ein Entschädigungsprogramm für Arbeitsmigranten. Ihre Forderung: Als einflussreichste Institution im Fußball solle der Weltverband mindestens 440 Millionen Dollar bereitstellen, das entspreche der Summe der Wm-preisgelder.
Es wird wohl noch Jahre dauern, bis sich der tatsächliche Einfluss der Fußball-wm für Staat und Gesellschaft in Katar seriös beurteilen lässt. Die Debatte hat in jedem Fall die Sportindustrie verändert. Anfang Juni nahm das deutsche Fußballnationalteam an einer Informationsveranstaltung mit kritischen Aktivisten und NGOS teil – vor zehn Jahren unvorstellbar. Etliche Gastgeberstädte der Fußballeuropameisterschaft 2024 in Deutschland arbeiten seit der Bewerbungsphase für ein Nachhaltigkeitskonzept mit Menschenrechtsorganisationen zusammen. Auch Austragungsorte der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko gehen in diese Richtung. „Die Diskussion um Katar wird hoffentlich dazu führen, dass Sportverbände die Vergabe von Großereignissen frühzeitig an Bedingungen knüpfen“, sagt Jonas Burgheim, Mitgründer des Zentrums für Menschenrechte und Sport. „Aber dabei darf es nicht bleiben. Profiklubs sollten auch auf die Produktionsbedingungen ihrer Sponsoren und Trikothersteller schauen.“Die Fifa hat ein Menschenrechtskonzept erarbeitet. Trotzdem verlegte sie ihre Klub-wm 2021 aus dem coronageplagten Japan kurzerhand in die Vereinigten Arabischen Emirate, die in der Rangliste der Pressefreiheit
„Viele Arbeiter trauen sich nicht, gegen ihren Arbeitgeber juristisch vorzugehen.“
Aktivistin Binda Pandey
„Die Vergabe von Großereignissen muss frühzeitig an Bedingungen geknüpft werden.“
Jonas Burgheim, Zentrum für Menschenrechte und Sport
von Reporter ohne Grenzen noch hinter Katar platziert sind.
Am Persischen Golf wird Katar von seinen Nachbarn kritisch beäugt. Die Herrscherhäuser in Saudi-arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten fürchten, dass sie durch die katarischen Reformen international in Zugzwang geraten. In den verbleibenden Wochen bis zur WM werden weitere Bücher und Dokumentationen zur Menschenrechtslage am Golf erscheinen. Doch die Geopolitik hat sich geändert: Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bemühen sich westliche Demokratien wie Deutschland um Gaslieferungen aus Doha. „Es gibt auch konservative Kräfte in Katar, die Reformen gern zurücknehmen würden“, sagt der Gewerkschafter Dietmar Schäfers. Wenn diese Kräfte ihr Ziel erreichen, dann wohl erst nach der WM, wenn die Aufmerksamkeit woanders liegt.