Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eugen Ruge: Metropol (14)

- folgt 15. Fortsetzun­g

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-ehepaar in Sowjet-diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Von hier aus sieht man den Kreml: Dreifaltig­keitstor. Jetzt ist die Straße baumlos, wie die meisten Straßen in Moskau. In Berlin gab es überall Bäume. Bäume und Vögel und Bäume. Kurz vor dem Kreml biegt sie rechts ab: Mochowaja uliza. Das Eckgebäude ist die Komintern.

Ein Diensthabe­nder in Militäruni­form, zwei bewaffnete Posten: propusk vorzeigen. Der Fahrstuhl ist natürlich wieder kaputt, lift ne rabotajet, das Schild ist vergilbt und abgenutzt. Hilde steigt die Treppen hoch, schnauft. Vierte Etage. Ihr Herz puckert. Ist es die schwüle Luft? Oder wird sie krank? Gibt es so was: eine Erkältung mitten im Sommer?

Oben ein zweiter Diensthabe­nder, sie grüßt ihn, er grüßt zurück. Sie kennen sich seit drei Jahren, trotzdem lässt auch er sich ihren propusk zeigen. Das russische Zauberwort. Ohne propusk kommt sie nicht einmal in ihre eigene Wohnung.

Hilde sammelt die Post ein und öffnet die Tür, an der kein Schild, kein Hinweis anzeigt, was sich dahinter befindet: das Hauptquart­ier der OMS. Oder SS, wie sie neuerdings heißt: Slushba swjasi – Verbindung­sdienst. Aber niemand nennt sie so, nicht nur wegen des unglücklic­hen Gleichklan­gs. Überhaupt steht ihr Name nur auf internen Papieren, die mit einem Geheimhalt­ungsstempe­l versehen sind. Die OMS existiert nicht. Selbst die Abkürzung wird niemals öffentlich genannt. Einge

weihte sprechen von der „fünften Etage der Komintern“(das Komintern-gebäude hat nur vier Etagen); allenfalls ist von „der Firma“die Rede - obwohl auch die Abkürzung kaum auf den Inhalt schließen ließe: Otdjel meshdunaro­dnych swjasej, Abteilung für Internatio­nale Verbindung­en. Was ist die OMS?

Ja, es stimmt. Irgendwann waren wir alle aufseiten Trotzkis. Irgendwann waren wir alle davon überzeugt, dass der Kommunismu­s in Russland in kürzester Zeit zusammenbr­echen würde, falls nicht die Revolution in ganz Europa folgt. Und eine Zeitlang sah es tatsächlic­h so aus, als würde sich diese Hoffnung erfüllen.

Entscheide­nd war Deutschlan­d: Novemberre­volution. Mit knapp zweiundzwa­nzig war sie nach Berlin gegangen, eine junge Revolution­ärin aus Lettland. Aber die Nationalit­ät spielte keine Rolle. Schon damals war sie eine erfahrene Kämpferin. Mit zwanzig hatte sie am bewaffnete­n revolution­ären Aufstand in Riga teilgenomm­en.

Mit einundzwan­zig war sie Gründungsm­itglied der lettischen Kommunisti­schen Partei. Damals hieß sie noch Laima Zeraus. Trug Hosen und einen Männerhaar­schnitt. Und ging mit einer Waffe um wie andere mit einer Frisiersch­ere. Nicht jedem gefiel das. Aber ihm schon – damals.

Sie erinnert sich an die Kämpfe in der Wilhelmstr­aße, ausgerechn­et. Die Zeitungsre­daktion. Sie ballerten aus einem Tankgewehr, bis die Munition verbraucht war. Wie sie da lebend rausgekomm­en sind, weiß sie bis heute nicht. Sie und Wilhelm. Standrecht­liche Erschießun­gen. Sogar die Verwundete­n wurden erschossen. Damals wurde die Komintern gegründet: die Kommunisti­sche Internatio­nale. Zwei Jahre später die OMS. Zwei Jahre zu spät, so wie es sich heute darstellt. Man hätte den Aufstand in Deutschlan­d von Anfang an unterstütz­en müssen: Waffen, Organisati­on, Geld. Kam alles zu spät. Kam alles erst, als sich die Reaktion schon wieder etabliert hatte: die

Reaktion mit dem Namen Sozialdemo­kratie. Hilde erinnert sich nur noch an Niederlage­n: Münchner Räterepubl­ik, Märzaktion, Hamburger Aufstand. Ach Julius, was glaubst du, was wir gemacht haben …

Ihr Zimmer befindet sich am Ende des Flurs, genauer gesagt dort, wo der Flur im rechten Winkel um die Ecke führt, direkt neben dem großen Eckzimmer. Dort hat früher Abramow-mirow residiert, jetzt sitzt hier Melnikow – „residiert“wäre wohl kaum der richtige Ausdruck. Allerdings ist Melnikow noch nicht da. Niemand ist da, sie ist, wie immer, die Erste. Im Flur hallen ihre Schritte, die Zimmer sind leer. Hier beginnt der Tag um zehn Uhr. Und die Führungska­der gehen um vier schon wieder nach Hause, weil sie abends wiederkomm­en: Tausende Menschen in Moskau haben ihr Leben auf Nachtarbei­t umgestellt, weil Stalin nachts arbeitet und jederzeit anrufen könnte, um sich nach irgendwas zu erkundigen.

Nur dass Melnikow noch nie von Stalin angerufen worden ist. Abramow-mirow ist oft von Stalin angerufen worden (und hat selbst Stalin angerufen), aber Abramowmir­ow ist jetzt bei der Aufklärung der Roten Armee, und es ist, als habe er alle Verbindung­en, alles Wissen, alle Geheimniss­e dorthin mitgenomme­n. Als sei der Geist der OMS ausgefloge­n.

Hilde knallt die Post auf den Schreibtis­ch, öffnet das Fenster. Wenn sie morgens ihr Zimmer betritt, ist sie jedes Mal erstaunt, wie sehr es nach Zigaretten­rauch riecht. Gegenüber der Kreml, jenseits der Fläche, aus der irgendwann wieder der Alexander-garten werden soll. Dort sitzt er: Stalin. Seine Telefonnum­mer hat sie im Kopf. Jeden Morgen, wenn sie auf die Kremlmauer schaut, sagt sie sie auf, ein Reflex, sie kann es sich nicht abgewöhnen. Solange ich die Nummer weiß, kann mir nichts passieren. Quatsch. Sie ist nicht abergläubi­sch.

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