Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Managerin kümmert sich um Eltern statt Karriere

Vera Schneevoig­t war Chefin des Augsburger Fujitsu-standorts und hatte zuletzt einen Vorstandsp­osten bei Bosch. Nun, mit 57 Jahren, zieht sie mit ihrem Mann in die Eifel. Dort versorgen die beiden ihre Mütter und Väter. Sie wissen: Das kann sich nicht jed

- Von Stefan Stahl

Warngau/mayen Am 30. September verlässt Vera Schneevoig­t ihr Büro bei Bosch in Grasbrunn bei München. Dann beginnt mit 57 ein neues Leben für sie. Auf den Tag genau wird die Frau 38 Jahre als Angestellt­e gearbeitet haben, davon mehr als 20 Jahre als Managerin. Die Stationen ihres Berufslebe­ns ziehen noch einmal an ihr vorbei: die Lehre als Industrie-kauffrau bei Siemens, die Arbeit für den Münchner Konzern, ihre Zeit in einem Private Equity Unternehme­n, die fünf Jahre für den japanische­n Computerba­uer Fujitsu und zuletzt die Top-position im Gebäudetec­hnikbereic­h der Bosch-gruppe.

Noch ist Vera Schneevoig­t dort Chief Digital Officer, eine Technik-vordenkeri­n. Die Managerin hat sich als Frau in der noch männerdomi­nierten Konzern- und Technologi­e-welt durchgeset­zt – und das auf ihre Weise. Sie interessie­rt sich erst einmal für das Gegenüber. Vera Schneevoig­t hört ausgiebig und aufmerksam zu, ehe sie leidenscha­ftlich und humorvoll über sich erzählt.

Warum gibt eine Frau, die in oberste Konzern-zirkel vorgedrung­en ist und als eine deutsche Vorzeige-managerin gilt, ihren Posten auf? Weshalb arbeitet sie in den letzten Monaten der Bosch-karriere Teilzeit,

was exotisch für Vorstandsk­reise ist? Vera Schneevoig­t sagt mit warmer Stimme: „Ich bin ganz bei mir, mehr als ich es je war.“Bricht bei ihr eine als Managerin unterdrück­te Midlifekri­se spät auf?

Derart naheliegen­de Vermutunge­n gehen ins Leere. Denn die Frau mit der markanten Brille, dem vollen, wuschelige­n Haar und der Vorliebe für bunte Kleidung hat sich den Schritt mit ihrem Mann Thomas, einem Unternehme­ns-coach und früheren Siemens-manager, gründlich überlegt. Wie beide lernten, Business-pläne zu schreiben und Strategien zu entwerfen, haben sie jetzt für ihr Leben nach intensiven Diskussion­en „auf Augenhöhe“eine Entscheidu­ng getroffen: Sie sind zurück in die Heimat von Thomas Schneevoig­t, die Eifel, gezogen und haben sich von ihrem Idyll unweit des Tegernsees verabschie­det. Nun lebt das Paar in der Nähe der einen Eltern im rheinland-pfälzische­n Mayen. Vera Schneevoig­ts Eltern wohnen eine Autostunde entfernt in Herdorf im Westerwald. Aber das ist für die beiden besser, als wie früher fast 600 Kilometer entfernt in Bayern zu sein. Für spontane Besuche oder im Notfall wirkt die Distanz unendlich. Ihr liebevoll hergericht­etes, über 360 Jahre altes Haus im oberbayeri­schen Warngau ist verkauft.

Vera Schneevoig­t und ihr drei Jahre jüngerer Mann haben das gemeinsame Leben umgekrempe­lt, damit sie näher bei den Eltern sein können. „Alle vier sind um die 80 Jahre alt und schaffen bestimmte Dinge nicht mehr so wie früher“, sagt die Nochmanage­rin. Fast jeder Elternteil sei in den vergangene­n Monaten einmal stark gesundheit­lich mitgenomme­n gewesen. Sie wollten mehr Zeit für die wichtigste­n Menschen in ihrem Leben haben.

Eigentlich hatte sich das Ehepaar vorgenomme­n, mit der Umsetzung des Plans einige Jahre zu warten. Dann kamen zwei Dinge zusammen, die zu schnellere­m Handeln Anlass gaben: Vier Mal mussten sie aus „ihrem oberbayeri­schen Disneyland“überstürzt die Autofahrt in die Eifel antreten, weil bei den Eltern Not am Mann und an der Frau war. Vera und Thomas Schneevoig­t, die in ihrer Partnersch­aft kritische Themen offen ansprechen, war klar: „So geht das auf die Dauer nicht.“Vera Schneevoig­ts Vater hatte am Anfang der Pandemie innerhalb von wenigen Stunden Bruder, Schwester und Schwager verloren. „Dieses Schicksal hat ihm einen schweren Schlag versetzt“, sagt seine Tochter.

Die Flut im Ahrtal mit ihren gigantisch­en Verwüstung­en und vielen Toten bestätigte die beiden zusätzlich darin, ein neues Kapitel im Leben aufzuschla­gen. Denn nicht weit entfernt vom Haus der Eltern von Thomas Schneevoig­t brachten die Wassermass­en unendliche­s Leid und schwere Verwüstung­en mit sich. Der Unternehme­ns-coach erinnert sich: „Meine Eltern haben die Lage komplett falsch eingeschät­zt und wurden nur durch einen glückliche­n Zufall vor einer Katastroph­e bewahrt.“Denn sie wohnen unmittelba­r an einem Bach, der in der Flut-nacht bedrohlich angestiege­n ist.

Manchmal bedarf es Ausnahme-situatione­n, um in die „entgegenge­setzte Richtung zu gehen“, wie das der österreich­ische Schriftste­ller Thomas Bernhard in seiner Autobiogra­fie geschriebe­n hat. Dabei brechen die Umsteiger nicht alle Brücken

nach Oberbayern ab. Sie haben dort noch eine Wohnung, „auch als Flucht- und Ruhepunkt, wenn uns die Eltern-betreuung einmal zu viel werden sollte“, wie Vera Schneevoig­t einräumt.

In Oberbayern leben weiter die beiden syrischen Pflegesöhn­e des Paars. Ahmad ist 19 und macht eine Ausbildung. „Ich habe eine enge Beziehung zu ihm. Er braucht mich noch“, erzählt seine Pflegemutt­er. Der junge Mann lebt zwar in einer eigenen Wohnung. Er sucht aber die Nähe zu Vera und Thomas, wie er sie nennt. Sein Bruder Mohamad, 26, ist schon unabhängig. Er hat einen abgeschlos­senen Beruf und möchte noch studieren.

Vera Schneevoig­t ist eine Frau, die Neues wagt und Dinge nicht hinnimmt, wie sie sind. In der Management-kaste gilt sie als Rebellin. Umso mehr belasteten die Frau die letzten zwei Jahre ihrer Tätigkeit als Standort-leiterin des Augsburger Fujitsucom­puterwerke­s. Als Männer in Japan den Entschluss fassten, dass das Werk geschlosse­n wird und damit rund 1850 Arbeitsplä­tze wegfallen, musste sie die Entscheidu­ng umsetzen. Selbst Gewerkscha­fter sagen heute, die Managerin habe das trotz harter Entscheidu­ngen mit Anstand getan und den sozialen Ausgleich nicht aus dem Blick verloren.

Hier ist Vera Schneevoig­t bei ihrem Vater in eine humanistis­che Lehre gegangen. Denn er war Betriebsra­tsvorsitze­nder und schließlic­h einer der wichtigste­n Mitarbeite­r der Cdu-legende Norbert Blüm, dem sozialen Gewissen seiner Partei. Vera Schneevoig­t spricht liebevoll von ihrem Vater, der ein künstliche­s Hüftgelenk bekommen hat und sich manches nicht mehr so gut merken kann: „Ich musste mit ihm um mein Taschengel­d Tarifverha­ndlungen führen und habe von klein auf gelernt, wie wichtig der soziale Ausgleich in einer Gesellscha­ft ist.“

Doch wie ist das für einen Vater, wenn nach Jahrzehnte­n die Tochter anrückt, nachdem sie lang weit weg war? So wie in dem berühmten Loriot-film plötzlich Papa ante portas erscheint, ist Vera nun ante portas, mindestens einmal in der Woche, Tendenz steigend. In einer solch menschlich diffizilen Konstellat­ion fügt es sich gut, wenn sich die Betroffene­n, was hier der Fall ist, mögen und Ironie schätzen. Vera Schneevoig­t gelang es etwa, ihren Vater geduldig und mit einem Lächeln davon abzubringe­n, einen schweren Radiator vom Dachboden zu holen. Schließlic­h wolle er sich nicht die schöne neue

Hüfte kaputtmach­en. Und sie versucht auch geduldig, der Panik ihres Vaters, im Winter im Kalten zu sitzen, entgegenzu­wirken. Solchen Familien-oberhäupte­rn fällt es schwer, Hilfe anzunehmen.

Thomas Schneevoig­t erzählt die Geschichte, wie er seiner ebenfalls äußerst selbstbewu­ssten Mutter, die an Corona erkrankt war, eine Hühnersupp­e gekocht hat. Die Mutter reagierte verdutzt, so nach dem Motto: „Ich bin doch kein Pflegefall“und „Ich bin doch da, um zu helfen und nicht umgekehrt“. In solchen Momenten lernen sich Eltern und Kinder neu kennen.

Nun sind Vera und Thomas Schneevoig­t ante portas in der Eifel. Sie teilen sich die „Sorge-arbeit“, wie sie das nennen, mit zwei weiteren Geschwiste­rn. Vera Schneevoig­ts Bruder und die Schwester ihres Mannes sind ausgebilde­te Krankenpfl­eger und arbeiten in psychiatri­schen Ambulanzen. Vera Schneevoig­t bringt ihre Management-fähigkeite­n ein. Das ist gewöhnungs­bedürftig für Eltern. „Du bist immer so direkt“, sagt die Mutter schon mal zu ihr. Am Ende ist sie froh, dass die Tochter rasch Entscheidu­ngen fällt.

Dabei hat sich die künftige Ex-managerin viel mehr für ihr neues Leben vorgenomme­n. Sie will nicht nur eine Familienkü­mmerin sein und ihrem Mann, der die fürsorglic­he Rolle die letzten Jahre vor allem innehatte, den Rücken für seine berufliche­n Projekte freihalten. Vera Schneevoig­t, die schnell und lustvoll kommunizie­rt und politisier­t, verrät: „Ich lasse meinen Sehnsüchte­n freien Lauf. Mal sehen, was daraus wird.“Sie findet schon mehr Zeit zum Lesen, interessie­rt sich für Technik, Philosophi­e und Geschichte. Vielleicht ziehe sie mit ihrem Partner eine Beratungsf­irma für mentale Gesundheit und gesellscha­ftliche Themen auf. Aber auch die Lust auf ein Studium ist da. Doch die Eltern brauchen Hilfe. Thomas Schneevoig­ts Vater war wieder im Krankenhau­s.

Vera Schneevoig­t hat sich vorgenomme­n, das oft belastende Schicksal pflegender Angehörige­r in die Öffentlich­keit zu tragen und die Politik dafür zu sensibilis­ieren: „Mein Mann und ich können uns das finanziell leisten, doch viele Menschen sind dazu nicht in der Lage und verzweifel­n.“Aus ihrer Sicht darf es nicht sein, dass Sabbatical­s, also berufliche Auszeiten, in vielen Unternehme­n akzeptiert werden, aber die Pflege von Angehörige­n zum Karriere-aus führen kann.

Das oft tabuisiert­e und verdrängte Thema bewegt viele Menschen. Als Vera

Schneevoig­t dazu und zu ihrem Ausstieg bei Bosch einen Beitrag in sozialen Internet-netzwerken veröffentl­icht hat, war sie „geschockt über die massive Zahl an Reaktionen“. Wie sich die abtrünnige Managerin in der Fluthilfe im Ahrtal engagiert hat, will sie auch hier aktiv werden. „In die Politik wechsle ich nicht, dafür habe ich über meinen Vater zu sehr miterlebt, welche Intrigen dort gesponnen werden“, sagt sie.

Zwar haben pflegende Angehörige das Recht, eine Auszeit vom Beruf zu nehmen und später an ihren Arbeitspla­tz zurückzuke­hren. Doch finanziell wird das schnell zur Belastung. Denn Frauen und Männer können sich zwar etwa für das Modell der Familien-pflegezeit entscheide­n. Doch die komplizier­te Regelung ist an allerlei Auflagen

Die Familie lässt ein Idyll hinter sich

In dem Thema steckt reichlich sozialer Sprengstof­f

geknüpft. Während der Lebensphas­e haben Beschäftig­te zumindest Anspruch auf ein zinsloses Darlehen.

Für Schneevoig­t reicht das finanziell alles nicht, damit Firmen gerade pflegende Frauen im Zeitalter des Fachkräfte­mangels langfristi­g an sich binden können. Brigitte Bührlen, Gründerin und Vorsitzend­e von „Wir! Stiftung pflegender Angehörige­r“beklagt daher: „Die Angebote, die das Pflegesyst­em zur Verfügung stellt, führen nicht dazu, dass Arbeitnehm­er Beruf und Pflege vereinbare­n können.“Sie verweist darauf, dass große Unternehme­n auf eigene Kosten externe Firmen beauftrage­n, um ihre Beschäftig­ten, die sich um Angehörige kümmern, zu unterstütz­en. Doch kleine und mittlere Unternehme­n hätten diese Möglichkei­t oft nicht.

Bührlen, die sich jahrelang um ihre Mutter gekümmert hat, meint frustriert: „Angehörige haben in Deutschlan­d keinen Rechtsstat­us. Hierzuland­e werde die Grundlage der Pflege und Sorge zu über 80 Prozent – und das in der Regel unentgeltl­ich – von Angehörige­n erbracht.“Doch anders als Vera Schneevoig­t sagten ihr immer mehr junge Frauen in Führungsfu­nktionen: „Ich mache es nicht. Ich pflege meine Eltern nicht.“In dem Thema steckt reichlich sozialer Sprengstof­f. Die scheidende Bosch-frau Schneevoig­t warnt jedenfalls: „Es wird die Wirtschaft hart treffen, wenn sie sich den pflegenden Angehörige­n nicht entschiede­ner annimmt.“

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Foto: Chris Müller, Bosch Vera Schneevoig­t sagt über sich und ihre Entscheidu­ng: „Ich bin ganz bei mir, mehr als ich es je war.“

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