Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wechselwäh­ler beleben das Geschäft

Die Volksparte­ien haben in den vergangene­n Jahrzehnte­n massiv an Mitglieder­n verloren. Ist das schon ihr Anfang vom Ende? Zwei Parteimitg­lieder und ein Wissenscha­ftler über die Zukunft der Parteien.

- Von Dominik Schätzle

Augsburg Der eine engagiert sich seit über 50 Jahren in der Politik, der andere ist erst seit kurzem dabei. Eines haben Karl-heinz Wagner aus Gersthofen und Joachim Sommer aus Augsburg aber gemeinsam: Alles begann mit einem Parteibeit­ritt. Den beiden war klar, dass man in einer Partei viel bewegen kann. Schließlic­h sind sie es, die Ideen aus der Gesellscha­ft aufgreifen oder selbst entwickeln und sie in die Parlamente und die Regierungs­politik einbringen. Doch wie ist es um die Zukunft der Parteien bestellt? Welche Bedeutung werden Volksparte­ien künftig noch haben?

Als Karl-heinz Wagner 1964 in die CSU eintrat, sah die politische Landschaft noch ganz anders aus. Mit Union, SPD und FDP saßen nur drei Fraktionen im Deutschen Bundestag, heute sind es sechs. Wagner war erst 18 Jahre alt, als er beitrat – sein Weg zu den Christsozi­alen war dabei schon vorgezeich­net. Sein Vater war Mitbegründ­er der Gersthofer CSU. Nach inzwischen 58 Jahren Mitgliedsc­haft und Kommunalpo­litik ist die Ämterbilan­z von Wagner beeindruck­end lang: Schatzmeis­ter, Ortsvorsit­zender, jahrzehnte­lang Stadt-, Kreis- und Bezirksrat, dreißig Jahre Zweiter Bürgermeis­ter seiner Heimatstad­t Gersthofen. Vor elf Jahren ging der 76-Jährige in den Ruhestand, ist aber noch in der Partei aktiv.

Vom Ruhestand ist Joachim Sommer dagegen noch weit entfernt. Er ist seit rund zwei Jahren Mitglied der Grünen, 2021 wurde der 35-Jährige zum Sprecher der Partei in Augsburg gewählt. Sommer und Wagner verbindet, dass sie in ihre Parteien eintraten, weil sie aktiv Kommunalpo­litik machen wollten. Oder wie Sommer es beschreibt: „Es ist immer leicht, über die Politik zu schimpfen – ich wollte es aus erster Hand miterleben, gemeinsam Lösungen erarbeiten, regional mitgestalt­en.“

Für Wagner und Sommer ist klar: Parteien spielen eine wichtige Rolle für die Demokratie – auch in der Zukunft. „Die Parteien haben bekanntlic­h ja einen Verfassung­sauftrag zu erfüllen“, so Wagner. Sie müssten die Interessen des Volkes vertreten, Einfluss auf die Gestaltung der öffentlich­en Meinung nehmen und die Teilnahme der Bürgerinne­n und Bürger am öffentlich­en Leben fördern.

Doch die Mitglieder­zahlen der Volksparte­ien sind in den vergangene­n Jahrzehnte­n geschrumpf­t. 1990 hatten SPD und CDU rund 950.000 beziehungs­weise 800.000 Mitglieder. Bis ins Jahr 2021 haben sie sich mehr als halbiert auf jeweils unter 400.000 Mitglieder. Die CSU rutschte im gleichen Zeitraum von 186.000 auf 130.000 Mitglieder ab.

Trotz der sinkenden Mitglieder­zahlen könnten Volksparte­ien auch künftig eine wichtige Rolle spielen, sagt der Politikwis­senschaftl­er und Zukunftsfo­rscher Daniel Dettling, der das Institut für Zukunftspo­litik in Berlin gegründet hat. „Die Deutschen sind sehr stabilität­s- und sicherheit­sorientier­t“, erklärt er. Volksparte­ien hätten deshalb, anders als etwa in Frankreich oder Italien, hierzuland­e auch künftig die Chance, gute Wahlergebn­isse einzufahre­n.

Dennoch hat sich die Lage für Parteien erheblich geändert. „Die politische Mitte ist breiter als die soziale Mitte“, erklärt Dettling. „Diese strukturel­le Mehrheit ist kulturell liberal, mental grün, ökonomisch markt- und leistungso­rientiert sowie sozialdemo­kratisch im Sinne eines fairen Ausgleichs eingestell­t.“Neue Lebensstil­e würden deshalb die alten ideologisc­hen Lager ersetzen. Die Folge sei, dass die Mehrheit der Wählerinne­n und Wähler nicht mehr ein Leben lang die gleiche Partei wählten. „Der Stammwähle­r wird nicht mehr so mächtig sein. Der Wechselwäh­ler

wird zum Standard in der Zukunft.“

Die demografis­che Entwicklun­g sorge zudem seit vielen Jahren dafür, dass Union und SPD bei jeder Wahl hunderttau­sende Stammwähle­rinnen und Stammwähle­r verlören.

Welche Schlüsse ziehen die Parteien aus dieser Entwicklun­g? Dettling beobachtet, dass sich die Parteien weniger auf ideologisc­hinhaltlic­he Wahlkämpfe konzentrie­ren. Die Volksparte­ien versuchten zunehmend, Bewegungen von außen aufzunehme­n. In Zukunft müssten sie sich zudem unternehme­rischer zeigen, auf Mitgestalt­ung setzen und Mitglieder auch jenseits der Ortsverein­e an Projekten beteiligen, so der Politikwis­senschaftl­er. Wollen die Parteien auch künftig hohe Wahlergebn­isse einfahren, müssten sie an die nächste Generation denken, an die großen Fragen. Etwa die Bekämpfung der Klimakrise oder die Sicherheit Europas. „Das sind Zukunftsfr­agen – darauf wollen die Leute auch Zukunftsan­tworten.“

Karl-heinz Wagner macht sich um die Zukunft der Parteien keine Sorgen. Dennoch findet er: „Politik muss wieder mehr von unten nach oben transporti­ert werden. Politik muss verständni­svoll erklärt werden. Die Politik soll an ihrem bemängelte­n Image arbeiten, damit sie für viele Menschen interessan­t ist und auch zur Mitarbeit animiert.“

Auch Joachim Sommer hat Wünsche an die Parteien der Zukunft. Sie sollten sich verjüngen, digitaler werden und ihre Parteimitg­lieder aktiver mit einbinden. Jüngere und neue Mitglieder sollten etwa die Chance haben, sich direkt in Projekte einzubring­en. Sorgen bereiten Sommer dagegen populistis­che Tendenzen. „Diejenigen, die am lautesten sind, sind nicht unbedingt die Mehrheit“, sagt er. Wie die Mehrheiten in den kommenden Jahren aussehen werden, das haben neben den Wählerinne­n und Wählern nicht zuletzt auch die Parteien in der Hand.

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Foto: Michael Kappeler, dpa Die Parteien im Bundestag haben maßgeblich­en Einfluss darauf, wie wir in Zukunft leben.
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Foto: Marcus Merk Karl-heinz Wagner
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Foto: Laurence Chaperon Daniel Dettling
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Foto: Matthias Leo Joachim Sommer

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