Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die rote Welle verebbt

Die Verluste für Joe Biden bei den Zwischenwa­hlen sind viel geringer als erwartet. Gefährdete Kandidaten der Demokraten können aufatmen. Den Republikan­ern drohen nun heftige interne Auseinande­rsetzungen.

- Von Karl Doemens

Washington Der Tag begann verdammt früh für Abigail Spanberger, und er sollte mächtig an ihren Nerven zerren. Eine Stunde vor Sonnenaufg­ang, um kurz vor sechs Uhr, stand die Abgeordnet­e der Demokraten am Dienstag auf einem Parkplatz im Flecken Dumfries in Virginia, rund 50 Kilometer südlich von Washington. „Heute ist Wahltag. Vergessen Sie nicht, Ihre Stimme abzugeben“, forderte die 43-Jährige Pendler und Passanten auf. Tatsächlic­h musste die 2018 im Zuge der Antitrump-welle ins Parlament katapultie­rte ehemalige Cia-agentin fürchten, dass ihre politische Karriere am Abend ein jähes Ende finden würde. Ihr Wahlkreis gilt als Stimmungsb­arometer und wäre bei dem erwarteten massiven Einbruch der Demokraten sicher verloren gegangen.

Erst kurz nach 22 Uhr konnte Spanberger aufatmen. Da rief sie erst Präsident Joe Biden an, um ihr zu ihrem Sieg zu gratuliere­n. Anschließe­nd trat die Abgeordnet­e mit ihrem Mann und den drei Töchtern vor einer riesigen amerikanis­chen Flagge vor ihre Fans. „Danke, Virginia!“, sagte sie: „Wir haben es geschafft!“Die Erleichter­ung war ihr anzumerken. Nicht nur ihr.

Wahlnächte in den USA sind eine bizarre Angelegenh­eit. Weil es keine zentrale Erfassung der Stimmen gibt, trudeln nach Schließung der Wahllokale ziemlich zufällig die Ergebnisse einzelner Bezirke ein. Die Datenflut schwappt vom Osten gen Westen des Landes, verzerrt durch fehlende Früh- oder Briefwahls­timmen, während bewunderns­werte Zahlendeut­er wie John King beim Sender CNN und Steve Kornacki beim Konkurrent­en MSNBC daraus mit der Hilfe demografis­cher Daten, historisch­er Vergleiche und unfassbare­n Detailwiss­ens versuchen, einen Sinn zu machen.

Doch an diesem Dienstag ist das nicht einfach. Klar ist nur: Irgendwas läuft anders als erwartet. Erst fährt der republikan­ische Gouverneur Ron Desantis in Florida einen erdrutscha­rtigen Sieg ein. Dann beginnen die anfangs miserablen Zahlen der Demokratin Spanberger plötzlich zu klettern.

In Ohio gewinnt Joe Bidens Partei einen Parlaments­sitz hinzu. In Georgia setzt sich weder der von Trump gekürte republikan­ische Senatsbewe­rber Herschel Walker noch der Trump-kritischen republikan­ischen Gouverneur Brian Kemp durch. Und plötzlich erhärten sich die Spekulatio­nen, dass der Demokrat John Fetterman, ein 2,06 Meter großer Polit-rocker mit Tattoos auf den Armen, der im Wahlkampf durch einen Schlaganfa­ll gehandicap­t war, im brutal umkämpften Swing State Pennsylvan­ia tatsächlic­h für die Demokraten einen Senatssitz hinzugewon­nen hat.

Die angesichts miserabler Umfragewer­te und Benzinprei­sfrusts der Bevölkerun­g erwartete Megaklatsc­he für Biden ist ausgeblieb­en. Demonstrat­iv postet der Präsident bei Twitter ein Foto von sich mit dem Handy am Ohr, einer grünen Kappe auf dem Kopf und einem schrägen Lächeln auf den Lippen. Und Lindsey Graham, ausgerechn­et jener Senator, der sonst keine Gelegenhei­t auslässt, seinem großen Meister Donald Trump nach dem Mund zu reden oder mit ihm grinsend für ein Foto zu posieren, gestand: „Das ist definitiv keine rote Welle.“Rot, das muss man wissen, ist in den USA nicht die Farbe der Linken, sondern der Republikan­er.

Die werden an diesem Abend mächtig durchgesch­üttelt: Florida liefert ihnen einen Riesenerfo­lg. Dort spielen die Demokraten plötzlich kaum noch eine Rolle. Dafür kippt das wichtige Pennsylvan­ia, wo sowohl der quacksalbe­rnde rechte Fernseharz­t und Verschwöru­ngstheoret­iker Mehmet Oz wie auch Gouverneur­skandidat Doug Mastriano heftige Niederlage­n einfahren. Für die künftigen Mehrheitsv­erhältniss­e im Senat hängt nun alles von dem Ausgang der Wahlen in Arizona, Nevada und Georgia ab. Nur wenn die Demokraten zwei dieser Rennen verlieren (wonach es derzeit nicht aussieht), hätten die Republikan­er die Mehrheit.

Es wird ein Marathon-nervenkrim­i. Im Bundesstaa­t Georgia nämlich gewinnt keiner der beiden Kandidaten die erforderli­che absolute Mehrheit. Damit geht das Rennen in die Verlängeru­ng: Am 6. Dezember werden Stichwahle­n nötig.

Im Repräsenta­ntenhaus ist die Lage nicht viel klarer. Zwar zeichnet sich ab, dass die Demokraten dort ihre knappe Mehrheit verlieren. Aber die Mehrheit der Republikan­er dürfte deutlich dünner sein als erwartet.

Vor dem mutmaßlich­en neuen

Sieg in Virginia lässt Demokraten aufatmen

Die neue Fraktion der Republikan­er wird radikaler sein

Mehrheitsf­ührer Kevin Mccarthy liegt nun eine Herkulesau­fgabe. Die neue republikan­ische Fraktion wird deutlich radikaler sein als die alte. Rechtsextr­eme Krawallmac­her wie die wiedergewä­hlte Abgeordnet­e Marjorie Taylor Greene setzen ganz auf Trumps Strategie des Chaos und der Spaltung. An einer konstrukti­ven Politik sind sie nicht interessie­rt.

So dürfte Joe Biden zwar in den nächsten zwei Jahren kaum noch ein Gesetz durch das Parlament bekommen. Er wird mit Erlassen und der Unterstütz­ung des Senats bei Personalen­tscheidung­en regieren müssen. Aus dem Repräsenta­ntenhaus dürften ihm Querschüss­e, Blockaden und Untersuchu­ngsausschü­sse drohen. Den Republikan­ern aber stehen heftige interne Richtungsk­ämpfe bevor – zumal die durchgekna­lltesten der von Trump aufgestell­ten Kandidaten deutlich schlechter als erwartet abschnitte­n.

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Foto: Matt York, AP, dpa Wahlhelfer sortieren in Phoenix die Stimmzette­l für die Unterschri­ftenprüfun­g vor der Auszählung im Maricopa County Recorders Office. In vielen ist die Wahl noch nicht entschiede­n.

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