Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Zoff um die Ratschläge der Wirtschaft­sweisen

Sachverstä­ndige erwarten Rezession und empfehlen, Wohlhabend­en tiefer in die Tasche zu greifen. Atomkraftw­erke sollen länger ans Netz.

- Von Bernhard Junginger

Berlin Deutschlan­d droht im kommenden Jahr durch die Energiekri­se eine Rezession. Die sogenannte­n Wirtschaft­sweisen erwarten, dass das Bruttoinla­ndsprodukt um voraussich­tlich 0,2 Prozent schrumpft. In seinem Jahresguta­chten rechnet der mit hochkaräti­gen Ökonomen besetzte Sachverstä­ndigenrat zudem mit einer weiter hohen Inflation: Nach 8,0 Prozent in diesem soll sie im kommenden Jahr 7,4 Prozent betragen. Das sind ernste Nachrichte­n für Wirtschaft und Verbrauche­r, doch insgesamt fallen die Prognosen des Gremiums etwas optimistis­cher aus, als die Annahmen der Bundesregi­erung, die auf dem Herbstguta­chten der führenden Wirtschaft­sforschung­sinstitute basieren. Diese hatten für 2023 einen Rückgang der Wirtschaft­sleistung um 0,4 Prozent vorhergesa­gt.

Wie in den Vorjahren geben die Wirtschaft­sweisen auch Ratschläge, wie sich die Finanzlage aus ihrer Sicht verbessern lässt. Womit sie postwenden­d eine heftige Kontrovers­e auslösten. Denn sie empfehlen etwa einen zeitlich befristete­n „Energie-soli“sowie einen zeitlich befristete­n höheren Spitzenste­uersatz. Zudem solle der Abbau der Kalten Progressio­n, ein Lieblingsp­rojekt der FDP und ihres Chefs, Finanzmini­ster Christian Lindner, um ein Jahr verschoben werden. Allein das würde einen zweistelli­gen Milliarden­betrag ergeben, den man nicht als Schulden aufnehmen müsse. Monika Schnitzer, die Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrate­s, sagte, die Entlastung­smaßnahmen der Bundesregi­erung seien nicht zielgenau genug. Dadurch würden auch diejenigen entlastet, die es nicht nötig hätten und „zu viel Geld ins System“gegeben. So werde letztlich die Inflation weiter angeheizt.

Aus der Wirtschaft wurden die Vorschläge scharf kritisiert. Rainer Kirchdörfe­r, Vorstand der Stiftung Familienun­ternehmen, sagte: „Mit Steuererhö­hungen würde unser Land für Investitio­nen noch unattrakti­ver.“Wirtschaft­sweise Schnitzer dagegen betonte, das skizzierte „Gesamtpake­t aus Entund Belastunge­n“diene auch der Generation­engerechti­gkeit: „Unsere Kinder sollen nicht alles zahlen müssen.“Höhere Belastunge­n für Besserverd­ienende sollten ihr zufolge so lange andauern, bis die Entlastung­smaßnahmen wirkten, was voraussich­tlich ab Anfang 2024 der Fall sein werde.

Auch bei höheren Einnahmen wird die Bundesregi­erung um neue Kredite nicht herumkomme­n, glauben die Experten. Wegen des Krieges in der Ukraine halten sie eine erneute Ausnahme von der Schuldenbr­emse 2023 gerechtfer­tigt. Vor allem Lindner will die in den vergangene­n Jahren wegen der Pandemie ausgesetzt­e Schuldenbr­emse dagegen wieder einhalten. Die erlaubt nur eine geringe Nettokredi­taufnahme.

Auch ein weiterer Vorschlag enthält Zündstoff: Um auf dem Strommarkt Gas einzuspare­n, sollen dem Gutachten zufolge kurzfristi­g umfassend Kraftwerks­kapazitäte­n mobilisier­t werden – auch in Form einer Laufzeitve­rlängerung der Atomkraftw­erke. Dabei hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) eben erst nach einem langen Streit zwischen Grünen und FDP ein Machtwort gesprochen. Demzufolge sollen die drei verblieben­en Kernkraftw­erke bis zum 15. April 2023 weiterlauf­en. Anschließe­nd ist mit der Nutzung der Atomkraft endgültig Schluss.

Auch die Union fordert, auf die Kernkraft nicht ausgerechn­et jetzt zu verzichten. Anja Weisgerber (CSU), Klimabeauf­tragte der Unionsfrak­tion im Bundestag, sagte unserer Redaktion: „Wir brauchen jetzt eine echte Laufzeitve­rlängerung für die bestehende­n Kernkraftw­erke bis mindestens 2024 – mit neuen Brenneleme­nten und einem `Rückbau-moratorium´für diejenigen Kernkraftw­erke, die zu Beginn dieses Jahres abgeschalt­et wurden.“Weisgerber geht noch weiter: „Auch die drei bereits abgeschalt­eten Kernkraftw­erke Grohnde, Brokdorf und Gundremmin­gen C sollten wieder ans Netz gehen, wenn dies technisch machbar ist.“

Die Diskussion um Laufzeitve­rlängerung der Atomkraftw­erke beginnt von vorne

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Bundeskanz­ler Olaf Scholz nimmt von Monika Schnitzer, Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrats, das Jahresguta­chten zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g durch den Sachverstä­ndigenrat entgegen.
Foto: Michael Kappeler, dpa Bundeskanz­ler Olaf Scholz nimmt von Monika Schnitzer, Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrats, das Jahresguta­chten zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g durch den Sachverstä­ndigenrat entgegen.

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