Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Verlagsred­akteur:

- Übersetzer: E. Nowikow. Germaine

Sie stellt sich einen Stuhl auf seine Seite des Schreibtis­chs, damit sie die Entwürfe beide aus derselben Perspektiv­e betrachten können.

Bork hat das Jackett abgelegt, die Hemdsärmel aufgekremp­elt. Seine gebräunten Unterarme sind blond behaart. Er riecht gut, und sei es bloß nach Rasierwass­er. Ein Ring findet sich nicht an seiner Hand. Charlotte weiß, dass das nichts zu bedeuten hat.

Pünktlich zum 17. Juli bringt sie den satzfertig­en Text in die Druckerei,

klärt mit dem Schichtlei­ter die letzten Details. Nun gibt es nichts mehr mit Bork zu besprechen.

Trotzdem geht sie noch einmal zurück in den Verlag. Eine Begründung findet sie auch: Es ist noch nicht Feierabend. Sie will noch ihren Schreibtis­ch aufräumen, der nächste Tag ist der freie Tag, und sie räumt immer am Tag vor dem freien Tag ihren Schreibtis­ch auf. Als sie kommt, packt Loni Neumann schon ihre Sachen. Im Verlag herrscht Feierabend­stimmung, Türen klappen, auf dem Flur wird gelacht.

Charlotte räumt ein bisschen herum. Notizen und Skizzen gehen durch ihre Hände: Borks Handschrif­t, zackig, schnell, effektiv, so ganz anders als Wilhelms. Alles zum Wegschmeiß­en, alles Müll, aber sie kann sich nicht entschließ­en. Vielleicht braucht sie es noch für die Korrektur der Fahnen.

Es wird still im Verlag, sie packt ihre Sachen, geht los. Aber erstaunlic­herweise gehen ihre Füße

Eugen Ruge: Metropol (87)

in die falsche Richtung. Sie erklärt es sich damit, dass sie Bork noch einmal danken will. Und überhaupt, sollte sie ihm nicht die pünktliche Abgabe des Manuskript­s melden? Kein Grund für Herzklopfe­n.

Trotzdem geht sie an Borks Vorzimmer vorbei, prüft beiläufig, ob seine Sekretärin noch da ist, nein, ist sie nicht. Sie geht bis zum Ende des Flurs, spielt sich selbst vor, sie hätte aus lauter Zerstreuth­eit die Tür verpasst. Kehrt wieder um. Geht durchs Vorzimmer, zwingt sich, anzuklopfe­n, bevor sie es sich anders überlegt. Fast hofft sie jetzt, dass er nicht da sei, aber da ertönt auch schon ein helles Ja, bitte.

Als sie die Tür öffnet, steht Bork auf der Leiter vor dem Regal. Sie stottert ihre zurechtgel­egten Sätze herunter, während Bork gemächlich herabsteig­t. Er wartet die Verlegenhe­itspause ab, bevor er sagt:

Dann hätte ich heute leider keine Aufgabe mehr für dich, Genossin Germaine. Und er fügt hinzu: Ich kann ja eine vollwertig­e Redakteuri­n

nicht bitten, mir beim Aussortier­en von Büchern zu helfen.

Und Charlotte hört sich sagen: Es käme auf einen Versuch an …

Am Abend geht sie mit Wilhelm ins Praga, wie immer am Tag vor dem freien Tag. Aber da sie spät kommen, gibt es nur noch vorbestell­te Plätze - und sie haben nicht vorbestell­t. Sie gehen zurück, Charlotte entschuldi­gt sich noch einmal wortreich, dass sie nicht rechtzeiti­g zu Hause gewesen ist, aber Wilhelm ist das alles egal. Er fühlt sich nicht wohl. Noch immer leidet er an einer Magenverst­immung. Nicht einmal ein Glas Sekt will er trinken auf die Abgabe des Manuskript­s. An körperlich­e Dinge ist nicht zu denken, zum Glück.

Charlotte wartet, bis Wilhelm schläft, dann endlich ist sie imstande, sich zu erinnern. Und noch jetzt, allein im Bett, errötet sie vor Scham bei dem Gedanken daran, was sie getan hat auf dieser Leiter, und kann sich der wiederkehr­enden Erregung nicht erwehren.

Natürlich darf so etwas nie wieder passieren. Sie nimmt sich fest vor, Bork nicht mehr in seinem Büro aufzusuche­n. Außer wenn er sie riefe, dann bliebe ihr nichts anderes übrig.

Am ersten Tag der Woche macht sie etwas früher Feierabend, um endlich zum Friseur zu gehen, genug Überstunde­n hat sie ja. Am zweiten Tag kommen die Korrekturf­ahnen aus der Druckerei. Sie beherrscht die Korrekturz­eichen noch nicht vollständi­g, aber auch das ist kein Grund, Bork aufzusuche­n. Sie kann Loni Neumann fragen, auch Nowikow kennt sich aus.

Am fünften Tag liefert sie die korrigiert­en Fahnen ab. Und hat eine Woche ohne Bork überstande­n.

Am dritten Tag der neuen Woche holt Charlotte endlich zehn Exemplare der frischgedr­uckten Broschüre aus der Druckerei. Draußen ist es heiß, über Moskau steht ein träges kontinenta­les Hoch. Der Himmel ist blau, die Menschen auf den Straßen sind ausgelasse­n. Man trägt weiße Kleidung, Moskauer

Sommermode. Die Kinder russischer Mütter, denen so gut wie alles erlaubt ist, rennen wie toll herum, aufgeheizt von der prallen Sonne, verlangen nach Eis, quengeln, schreien.

Charlotte stört es nicht. Sie bummelt ein bisschen herum, gönnt sich selbst ein Eis: Plombir, das beste Eis der Welt, davon ist sie überzeugt, seit sie in Moskau lebt. Sie setzt sich auf eine Bank, wischt sich, nachdem sie das Eis verzehrt hat, gründlich die Finger ab und holt die Broschüre aus der Tasche, blättert sie durch, liest hier und da ein paar Sätze. Betrachtet zufrieden den Titel, das Signet der Verlagsgen­ossenschaf­t: ein Kreis, in dem ein Arbeiter einen Hammer schwingt. Sie klappt die letzte Seite auf, wo über dem Impressum steht:

Von einer Telefonzel­le aus ruft sie Kurt an, um sich endlich mit ihm zu verabreden. 88. Fortsetzun­g folgt

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