Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Jedes Bett zählt
Mehr als 1,1 Millionen Menschen haben in diesem Jahr Zuflucht in Deutschland gesucht. Viele Kommunen bringt das an die Belastungsgrenze. Eine Geschichte über Privatsphäre hinter dem Bauzaun, umfunktionierte Turnhallen und die Frage, wo Wohnraum langfristi
Bad Wörishofen/neu-ulm Dort, wo früher die Laderampe war, rauscht eine Frau auf dem Bobbycar den Berg hinunter. Der Junge auf ihrem Schoß kreischt vor Begeisterung und brabbelt etwas Unverständliches. Drinnen, in dem Gebäude mit der tristen Blechfassade, spielt ein ukrainischer Junge in Strumpfhosen Fangen mit größeren Kindern. Dann nimmt die ältere Schwester ihn hoch, öffnet den Bauzaun zur Koje einen Spalt breit und trägt ihn in sein Bett. „Landschaft, die den Atem raubt“, steht auf dem Plakat, das den Bauzaun umspannt – und dazu ein Bild der Kneippstadt Bad Wörishofen.
Tobias Ritschel weiß, dass diese Halle mit den vielen Bauzaun-kojen kein schöner Ort zum Leben ist. „Ich würde da auch nicht drin wohnen wollen“, hat er vorhin gesagt. Und dass es für die Flüchtlinge, die hier in der Notunterkunft in Bad Wörishofen untergekommen sind, doch auch eine Art Zuhause ist, zum Teil für mehrere Wochen. Man habe sich bemüht, den Menschen wenigstens ein bisschen Privatsphäre
zu ermöglichen. „In München steht in so einem Fall Bett an Bett“, erklärt Ritschel, der im Landratsamt Unterallgäu das Ausländeramt leitet. Und dass andernorts Turnhallen umgebaut werden müssen, um Flüchtlinge unterzubringen.
Früher war in dem Blechfassaden-bau im Industriegebiet ein Möbelhaus untergebracht. 2015, als die große Flüchtlingswelle Deutschland erreichte, wurde daraus eine Notunterkunft für mehrere hundert Menschen, die aber nur ein paar Wochen in Betrieb war, weil im Landkreis viele Asylbewerber dezentral untergebracht werden konnten. Ende 2020, als die Flüchtlingsunterbringung kein großes Problem mehr im Unterallgäu war, man aber dringend ein Impfzentrum brauchte, zog dieses in eine Hälfte ein. Und als im Frühjahr die Menschen aus der Ukraine flohen, organisierte man auf die Schnelle erneut Feldbetten, Matratzen und Bauzäune.
Jetzt, ein Dreivierteljahr später, sind viele Kommunen wieder genauso weit. Weil die Zahl der Flüchtlinge deutlich steigt. Es sind nicht nur Kriegsvertriebene aus der Ukraine, sondern auch Menschen
aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Mehr als 1,1 Millionen Flüchtlinge haben dieses Jahr bereits Zuflucht in Deutschland gesucht. Und sie alle brauchen eine Bleibe. Eine Aufgabe, die viele Kommunen ans Limit bringt. Karl Kopp von der europaweit tätigen Menschenrechtsorganisation Pro Asyl warnt vor einer „Unterbringungskrise“. Notunterkünfte könnten nicht die Lösung sein, erst recht nicht Zelte oder Turnhallen, die man Schülern und Vereinen vorenthalte, die bereits während der Pandemie Opfer bringen mussten. „Und wir können nicht Frauen und Kinder wochenlang in Großunterkünften de facto menschenunwürdig unterbringen.“
Die Realität sieht anders aus. In Leipzig wird gerade eine Zeltstadt gebaut, in Dresden werden Messehallen zu Notunterkünften umfunktioniert. In Berlin sind, wenn der Zustrom anhält, noch in diesem Jahr bis zu 10.000 Plätze notwendig. Weil nicht genug Gebäude angemietet werden können, denkt man über Leichtbauhallen oder Zeltlösungen nach. In Ulm sollen Container auf einem früheren Wohnmobilstellplatz Raum für Flüchtlinge bieten. Schon jetzt ist klar, dass das nicht reichen wird. Inzwischen überlegt man, zusätzlich Sporthallen zu belegen – auch, wenn man das so lange wie möglich vermeiden will.
Auf der anderen Seite der Donau ist man da ein Stück weiter – gezwungenermaßen. Im Landkreis Neu-ulm ist eine Turnhalle in Nersingen mit knapp 200 Ukrainerinnen und Ukrainern belegt. Und eine zweite in der Stadt Neu-ulm wird für die Notunterbringung von Ukrainern hergerichtet. Auch im Landratsamt weiß man, dass diese Lösung nicht ideal ist. „Natürlich schmerzt das. Auch uns ist das nicht recht, wenn wir Turnhallen belegen müssen“, sagt Alexander Groß von der Ausländerbehörde. 2015 war Neu-ulm der erste Landkreis in Schwaben, der Asylbewerber in einer Turnhalle unterbrachte – einfach, weil man keine anderen Gebäude mehr anmieten konnte.
In gewisser Weise profitiert man nun von den Erfahrungen der damaligen Flüchtlingswelle. Etwa, wie man eine Turnhalle schnellstmöglich in eine Notunterkunft umfunktioniert. Vier bis sechs Wochen braucht es dafür, erklärt Kreisbrandrat Bernhard Schmidt, der die Koordinierungsgruppe Ukrainehilfe im Landratsamt leitet. Der empfindliche Hallenboden muss mit Sperrholzplatten abgedeckt werden, Stockbetten samt Matratzen müssen beschafft werden, es braucht Sichtschutzwände, um die Bereiche abzutrennen, Verträge mit Sicherheitsfirmen und Caterern. In diesen Tagen werden die letzten Arbeiten an der Berufsschulturnhalle abgeschlossen, knapp 200 Ukrainerinnen und Ukrainer können hier untergebracht werden. Wann die Halle belegt wird, wann die Flüchtlinge kommen, das wissen sie in Neu-ulm nicht. Nur, dass es jederzeit und auch sehr kurzfristig so weit sein kann.
Dass sich die Lage derart verschärft, hängt auch mit dem „Bayernausgleich“zusammen. 14,4 Prozent der Flüchtlinge, die im Freistaat ankommen, muss Schwaben aufnehmen. Das besagt die Asyldurchführungsverordnung. Tatsächlich waren es aber weniger als in den meisten anderen Regierungsbezirken. Deswegen kommen nun wöchentlich Busse mit etwa 50 Personen in Schwaben an, erklärt Karlheinz Meyer, Sprecher der Regierung von Schwaben. Diese würden auf die Landkreise und kreisfreien Städte verteilt.
Auch das Unterallgäu hat auf dem Papier noch Nachholbedarf. Tobias Ritschel hat die Zahlen im Kopf: Knapp 800 Ukrainerinnen und Ukrainer sowie knapp 250 Flüchtlinge aus anderen Ländern müsse man noch aufnehmen, um das Soll zu erfüllen. Heute findet das statt, was man „Zuweisungstag“nennt. Ein Bus mit 27 Flüchtlingen soll gegen Mittag in Mindelheim ankommen. Dann das übliche Prozedere – die Ankömmlinge werden registriert, Dokumente ausgehändigt. Danach fährt der Hausmeister die Flüchtlinge in die Notunterkunft in Bad Wörishofen, wo sie den ihnen zugewiesenen Bereich beziehen. Ritschel schiebt einen Bauzaun zur Seite und zeigt hinein: zwei Stockbetten, zwei Metallspinde, ein Tisch mit vier Stühlen, zwei Pfannen, zwei Töpfe, Teller und Tassen, Kochlöffel und Suppenkellen, Spülmittel, Schwamm und Geschirrtuch. Ein Starterset für ein neues Leben.
Es gab Zeiten in diesem Jahr, da waren die Busse, die in Mindelheim ankommen sollten, leer. Wie andernorts auch. Weil sich Ukrainer lieber eigenständig in die Großstädte aufmachten, als in einer Notunterkunft auf dem Land zu bleiben. Der Unterallgäuer Landrat Alex Eder von den Freien Wählern, der an diesem Herbsttag ebenfalls zur Notunterkunft nach Bad Wörishofen gekommen ist, sagt: „Für uns Kommunen ist das eine ganz andere Situation als 2015. Das hier ist eine total unkoordinierte Flüchtlingsbewegung.“
Weil die Menschen aus der Ukraine eben nicht in Massen am Münchener Hauptbahnhof ankommen oder zu Fuß die Grenze passieren. Weil für sie andere Regeln gelten als für Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Sie können sich niederlassen, wo sie wollen, die anderen sind verpflichtet, in einer Flüchtlingsunterkunft zu leben. Und während Ukrainerinnen und Ukrainer ein Aufenthaltsrecht für bis zu drei Jahre bekommen, arbeiten dürfen und Anspruch auf Sozialleistungen haben (Grundlage ist eine durch die Eu-mitgliedstaaten aktivierte Richtlinie), müssen die anderen erst ein langwieriges Asylverfahren durchlaufen. Vom „Zwei-klassen-system“ist immer wieder die Rede, von einer Ungleichbehandlung, die Neid schürt und selbst den Flüchtlingen schwer zu vermitteln ist.
Die Mitarbeiter in den Ausländerbehörden haben längst lernen müssen, dass auch in der Gesellschaft Flüchtling nicht gleich Flüchtling ist. Spätestens, wenn es darum geht, die Menschen jenseits der Notunterkünfte in Wohnungen zu vermitteln. Eine Mammutaufgabe in Zeiten, in denen bezahlbare Mietwohnungen Mangelware sind, wo auch die Bereitschaft gesunken ist, die eigene Einliegerwohnung für einen Schutzsuchenden freizuräumen.
In Neu-ulm sagt Alexander Groß: „Wohnraum ist bei uns im Landkreis ohnehin schon knapp. Und je größer die Familien sind, desto schwieriger wird es, eine passende Wohnung zu finden.“In Bad Wörishofen wird Landrat Alex Eder noch etwas deutlicher: „Die Leute wollen lieber an eine ukrainische Familie vermieten als an einen jungen Mann aus Afghanistan. Aber das dürfen wir einfach nicht.“Seit Juni ist das so. Den Landkreisen erschwert das die Wohnungssuche ungemein.
Weil es ja so schon genug Problemchen gibt: kulturelle Unterschiede, dass so mancher deutsche Vermieter nicht versteht, warum der Müll nicht getrennt wird. Oder es scheitert an Formalien. Bestimmte Verträge für Wohnungen, die vom Vermieter ausgestattet und betreut werden, darf das Amt nur noch für ein halbes Jahr abschließen. „Da vermietet man lieber an Osteuropäer, die hier zum Arbeiten auf Montage sind“, erklärt Eder.
In vielen Landkreisen ist man ratlos, wie man den Zustrom bewältigen soll –
„Ich würde da auch nicht drin wohnen wollen.“
Tobias Ritschel, Landratsamt Unterallgäu
„Die Leute wollen lieber an eine ukrainische Familie vermieten.“
Landrat Alex Eder, Unterallgäu
erst recht, da die Zahlen in den nächsten Monaten steigen werden. Vieles dürfte davon abhängen, in welcher Dimension Putin die zivile Infrastruktur in der Ukraine zerstört. Karl Kopp von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl fordert, die Kommunen müssten in die Lage versetzt werden, dass sie schnell menschenwürdige Wohneinheiten schaffen – etwa durch Module oder Container. „Da gibt es wirklich intelligente Lösungen.“
Ein Stück weit, scheint es, hat sich Ernüchterung breitgemacht. Das hört man in Helferkreisen, wo viele Ehrenamtliche aufgehört haben – den einen fehlt die Zeit, anderen die Kraft. Manche sind desillusioniert, weil Sprachbarrieren bleiben oder Menschen sich nicht integrieren wollen. In den Gemeinden häuft sich die Arbeit, je mehr Flüchtlinge registriert und untergebracht werden müssen, je mehr Plätze in Schulen und Kitas notwendig sind. „Meine Leute sind an der Belastungsgrenze“, sagt Ausländeramtsleiter Ritschel.
Sein Chef Alex Eder fordert mehr Unterstützung für die Kommunen. Dass der Freistaat etwa Bauprojekte anstößt. Dass vom Bund mehr kommt als nur die Zusage, 4000 Plätze in Bundesimmobilien wie früheren Kasernen dauerhaft zur Verfügung zu stellen – für den Landrat nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. „Wir Kommunen sind das letzte Glied in der Kette. Wir müssen die Dinge ausbaden“, sagt Eder. Und dass die Bundesregierung weltweit Signale setze, dass man bereit sei, Flüchtlinge aufzunehmen. „Aber man kümmert sich nicht, wie die Kommunen diese Aufgaben bewältigen sollen.“
Am Ende dieses Tages wohnen 113 Personen in der Bad Wörishofer Notunterkunft. Für 27 mehr wäre Platz. Wenn zum Jahresende das Impfzentrum aus dem Gebäude auszieht und der Mietvertrag verlängert ist, könnten 250, maximal 300 Personen hier untergebracht werden. Platz wäre fürs Erste.