Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Das gedruckte Buch wird nicht so schnell verschwinden“
Print oder digital? Medienkulturwissenschaftler Martin Doll erklärt, wie wir in der Zukunft wohl lesen werden – und ob man gedruckte Texte gründlicher liest als digitale.
Herr Doll, Sie haben sich unter anderem in einem Aufsatz mit dem „Lesen im Zeitalter der Digitalisierung“befasst, also Entwicklungen, die uns schon heute betreffen. Aber wie werden wir denn in Zukunft lesen?
Martin Doll: Da lässt sich nur substanziell spekulieren. Meiner Einschätzung nach wird das Lesen auf E-readern oder Tablets zunehmen und das E-book günstiger werden. Bei dessen Preis ist vielleicht noch Spielraum: Ist es wirklich durch den technischen Aufwand und das Digital Rights Management, also den Kopierschutz der E-books, gerechtfertigt, dass sie fast dasselbe kosten wie gedruckte Bücher? Denn Papier wird derzeit deutlich teurer, die Herstellung von Digitalem nicht unbedingt.
Was denken Sie, wie lang werden die Menschen überhaupt noch gedruckte Bücher lesen?
Doll: Da lohnt sich ein Blick in die Mediengeschichte: Oft war vom Tod eines bestimmten Mediums die Rede, als ein anderes auftauchte. Wie oft wurde der Roman oder das Theater schon für tot erklärt, weil es den Film gab? Denken Sie auch an den Popsong „Video killed the Radio Star“. In der Mediengeschichte hat das Aufkommen neuer Medien zwar zu solchen Diskussionen und Verschiebungen geführt. Auch, weil das Nachfolgemedium bestimmte Funktionen des Vorgängers übernommen hat, ergänzt durch andere. Verschwunden ist der Vorgänger aber in den seltensten Fällen. Wir lesen nach wie vor Bücher, trotz Film, Fernsehen und Hörbüchern. Und deswegen glaube ich, dass das gedruckte Buch für bestimmte Anlässe nicht so schnell verschwinden wird.
Worauf könnte sich das gedruckte Buch denn spezialisieren?
Doll: Zum Beispiel auf sehr aufwendig gestaltete Bücher, bei denen das Visuelle eine Rolle spielt. Denn bei E-readern, die nur noch auf die Textinhalte zugreifen, ist die Digitalisierung wohl Fluch und Segen zugleich: Man kann alles anpassen, wie man möchte, von der Schriftgröße bis zur Seitenaufteilung.
Aber gestalterische Momente – ein schöner Satz, gute Typografie, Seitenaufteilung – fallen in den meisten Fällen weg. Auf der anderen Seite wird sich das billige Paperback erhalten, das man an den Strand mitnehmen kann – und danach wirft man’s einfach weg. Aber die Zeit schlecht gemachter, aber teuer gedruckter Bücher wird über kurz oder lang vorbei sein. Ich habe hier gerade eines vor mir liegen, das ist so schlecht gesetzt, dass die Buchstaben im Falz verschwinden. Da fragt man sich, warum muss dieses Buch noch gedruckt werden?
Lesen wir in Zukunft weniger konzentriert und können uns weniger vom Text merken, wenn wir ihn vorwiegend digital lesen?
Doll: Oft wird zum Beispiel argumentiert, Studentinnen und Studenten heute würden alles digital und dadurch nicht mehr konzentriert lesen. Gegen diese Haltung habe ich die größten Vorbehalte. Ich war sehr froh, viele Studien dazu zu finden, die sich komplett widersprechen. Das heißt: Digital ist nicht automatisch böse, das analoge Buch nicht automatisch gut. Man sieht in der Geschichte des Lesens drei Leseformen, die schon vor Jahrhunderten thematisiert wurden: das intensive Lesen, oder auch die statarische Lektüre, ein ganz langsames und sehr genaues Lesen und Deuten von Textstellen. Dann die kursorische Lektüre – man liest zwar den ganzen Text, aber zügig. Man springt nicht zurück und hat auch keine genauere Auslegung im Sinn. Schließlich das Querlesen: Man überfliegt den Text nur und versucht, sich ein paar Begriffe anzusehen. In manchen Studien wird das teilweise gegeneinander ausgespielt. Da wird verallgemeinert: Alles Digitale würde nur oberflächlich gelesen wie auf einer Homepage, auf der man zum Beispiel den Text nach Hyperlinks abscannt. Da würde ich noch mitgehen. Ich würde aber als Gegenargument aus der Geschichte der Leseformen sagen: Man braucht alle drei Formen. Das Querlesen, um zu sehen, welcher Text sich für eine Lektüre lohnt. Dann die kursorische Lektüre von Texten, die in die engere Wahl gekommen sind. Und die drucke ich mir aus, um bestimmte Textstellen schließlich genauer zu lesen. Das intensive Lesen sollte also auch noch stattfinden. Und dabei macht es einen Unterschied, ob man etwas auf einem Computerbildschirm liest, einem Tablet oder einem klassischen E-book-reader. Alle haben ihre Qualität und sollten nicht in einen Topf geworfen werden.
Sie schätzen die Zukunft des Lesens also nicht als düster ein?
Doll: Absolut nicht. Darüber habe ich neulich auf einer internationalen Konferenz diskutiert. Ein Kollege hat festgestellt, dass seine Studentinnen und Studenten Texte zur politischen Theorie auf dem Handy lesen. Da hätte ich in der Tat meine Bedenken. Ich glaube, bei solchen Texten braucht man einen Überblick, also eine wirkliche Seitenansicht, die den Namen verdient. Aber das heißt lange nicht, dass sich unser Lesen verschlechtert, nur weil es Handys oder Tablets gibt. Die Frage ist, ob wir uns andere Lesetechniken angewöhnen müssen, statt die vom Buch beizubehalten. Das haben wir schon einmal gemacht. Sonst würden wir nach wie vor noch die Schriftrolle vermissen, die Vorgängerin des Codex, der heutigen Buchform. Da hat in der Geschichte schon einmal ein massiver Umbruch stattgefunden.
Lesen Sie selbst eigentlich lieber auf dem E-book-reader oder ein gedrucktes Buch?
Doll: Beides. Mein wissenschaftliches Lesen habe ich fast zu 100 Prozent auf das Tablet verlegt. Ich bin viel unterwegs, in der Cloud kann ich auf die Texte zugreifen. Und mein Regal zu Hause ist voll
(lacht). Ich habe aber eine Technik aus dem Bücherlesen beim Tablet übernommen: Ich mache mir auch dort mit einem entsprechenden Eingabestift klassische handschriftliche Notizen, und dazu kommen die Optionen, die Pdf-programme oder E-book-reader bieten, wie gerade Unterstreichungen. Bei Romanen mache ich es aber anders: Die lese ich meist in den Ferien, als gedrucktes Buch. Am Strand oder draußen ist das einfach praktischer. Die Bücher landen bei mir danach fast nie im Regal, weil ich sie selten noch einmal lese. Manchmal verschenke ich sie auch weiter oder werfe billige Paperbackausgaben nach dem Urlaub einfach weg.