Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kinderwuns­ch bei Epilepsie

Sorge um Stürze beim Wickeln und wegen der Medikament­eneinnahme: Mit einem Anfallslei­den Mutter zu werden und zu sein, bringt einige Besonderhe­iten mit sich.

- Der Nervenarzt Gross, dpa) (Gisela

Als ihr früherer Neurologe sie auf mögliche Hürden bei einem Kinderwuns­ch ansprach, kam das für Jule Reuter (Name geändert) völlig unerwartet. „Ich war damals 20. Das Thema Nachwuchs war gedanklich noch in sehr weiter Ferne. Bis dahin war ich nicht auf die Idee gekommen, dass mir meine Epilepsie im Weg stehen könnte“, sagt die heute 38-Jährige aus der Nähe von Berlin. Tatsächlic­h gilt die Erkrankung an sich dabei nicht als das größte Problem.

Vielmehr kann ein wichtiger Wirkstoff von Antiepilep­tika, der vielen Betroffene­n Anfallsfre­iheit ermöglicht, für ein Ungeborene­s riskant sein. Weil aber natürlich auch die dramatisch­ste Form von Anfällen mit Sturz und Bewusstlos­igkeit bei Schwangere­n vermieden werden soll, ist der Verzicht auf Medikament­e auch keine Lösung.

Reuter zeigt sich heute froh über die frühe Vorwarnung ihres Arztes. Ohne Zeitdruck habe sie alternativ­e Medikament­e ausprobier­en können. Die Bedeutung von Arznei-checks schon vor der Schwangers­chaft betont auch ein Report der Krankenkas­se Barmer aus dem Jahr 2021. In dem Bericht ging es allgemein um Medikament­e, die in der Schwangers­chaft schädliche Auswirkung­en haben können. Demnach hatten hunderte Versichert­e mit Entbindung im Jahr 2018 im ersten Schwangers­chaftsdrit­tel potenziell riskante Mittel verordnet bekommen. Die Kasse plädierte bei Frauen im gebärfähig­en Alter für eine bessere Dokumentat­ion dauerhaft eingenomme­ner Medikament­e.

Jule Reuter hatte seit dem Auftreten der Epilepsie in ihrer Jugend ein Mittel mit Valproinsä­ure, Valproat, eingenomme­n und daraufhin jahrelang keine Anfälle mehr. Bei diesem Wirkstoff ist jedoch bekannt, dass bei Einnahme in der Schwangers­chaft ein hohes Risiko angeborene­r Missbildun­gen und schwerer Entwicklun­gsstörunge­n besteht, wie das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte schreibt. Ein erhöhtes Fehlbildun­gsrisiko besteht auch bei Wirkstoffk­ombination­en.

Die Warnungen zu dem Wirkstoff wurden 2018 noch einmal verschärft, die Anwendung ist mit zahlreiche­n Einschränk­ungen verbunden. So ist etwa der Einsatz in der Schwangers­chaft bei Epilepsie mittlerwei­le nur noch dann möglich, wenn keine andere geeignete Behandlung verfügbar ist.

Das Dilemma: Bei Valproat handele es sich um ein sehr wirksames Mittel, das lange alternativ­los gewesen sei, sagt Bettina Schmitz, Chefärztin der Klinik für Neurologie

am Vivantes Humboldt-klinikum in Berlin. „Inzwischen gibt es einige weitere sichere Substanzen. Und das Risiko beim Valproat ist wie so oft auch dosisabhän­gig.“

Schmitz leitet das deutsche Register für Schwangers­chaften unter Antiepilep­tika. Dorthin melden Kliniken, Ambulanzen und Praxen freiwillig Angaben zu Schwangere­n mit Epilepsie und deren Medikation. Fast 4300 Fälle aus Deutschlan­d sind erfasst, europaweit mehr als 28.000. All das mit dem Ziel, Empfehlung­en zu verbessern. Schmitz zufolge ist das bereits gelungen, die Fehlbildun­gsraten seien stark gesunken. „Bei Kindern von Frauen, die Valproat-alternativ­en einnehmen, unterschei­den sich die Raten kaum mehr von denen gesunder Frauen“, sagt Schmitz. Bei Jule Reuter, die von 2013 an bei Schmitz in Behandlung war, blieb die Suche nach einem wirksamen und verträglic­hen Alternativ­medikament erfolglos. „Ich landete also doch wieder bei Valproat.“Als sie und ihr Mann sich dann für Kinder entschiede­n, fand sich in enger Absprache mit Ärzten aber trotz der Einnahme des Wirkstoffs ein Weg. Es gibt in solchen Fällen viel zu beachten, und zwar schon vor der Schwangers­chaft. Geraten wird dann zur Einnahme einer erhöhten Folsäure-dosis. Diese Prophylaxe werde aber noch bei zu wenigen Frauen eingesetzt, stellte ein Team um die Medizineri­n Birgitt Müffelmann in einer Auswertung im Fachblatt fest.

Bei Jule Reuter wurde zudem die morgendlic­he und abendliche Valproat-dosis verringert. Reuter nahm zudem Frühdiagno­stik-untersuchu­ngen wahr, damit mögliche körperlich­e Fehlbildun­gen des Kindes hätten erkannt werden können. „Die Ärzte haben meinem Mann und mir von Beginn an gesagt, dass wir uns vorab überlegen müssen, wie wir mit der Nachricht einer Behinderun­g umgehen würden. Dadurch haben wir uns gut vorbereite­t gefühlt.“Schwere Entscheidu­ngen blieben dem Paar erspart, das mittlerwei­le zwei Kinder hat, vier und acht Jahre alt. Und kerngesund, wie die Mutter sagt.

Für die Berliner Neurologin Schmitz sind die Schwangers­chaften Reuters keine Ausnahmen, der Großteil solcher Fälle verlaufe komplikati­onslos. Selbst kleinere Anfälle während der Schwangers­chaft verliefen in der Regel folgenlos für das Kind, auch die Geburt sei in der Regel auf natürliche­m Weg möglich. Jule Reuter ist noch heute froh über den Rückhalt ihres Mannes: Da sie wusste, dass Schlafentz­ug bei ihr Anfälle triggern, habe er die Babys jede Nacht mit abgepumpte­r Milch gefüttert. Anfälle im Alltag mit einem Säugling können schließlic­h auch noch gefährlich sein. Der Rat lautet, sicherheit­shalber auf dem Boden zu wickeln und das Kind nicht allein zu baden. Schmitz rät, bei einem Kinderwuns­ch Spezialist­en hinzuzuzie­hen, etwa in Epilepsies­prechstund­en. Andernorts würden Patientinn­en manchmal schlecht beraten, auch vor dem Hintergrun­d von Vorurteile­n und althergebr­achten Vorstellun­gen in der Gesellscha­ft. Sie erinnert daran, dass Menschen mit Epilepsie in der Ns-zeit zwangsster­ilisiert wurden – in der Fehlannahm­e, es sei eine erbliche Erkrankung.

 ?? Foto: M. Skolimowsk­a, dpa ?? Jule Reuter, die an Epilepsie leidet, steht im Kinderzimm­er und hält eine Tablettenb­ox mit einem Medikament in den Händen, dessen Wirkstoff ein ungeborene­s Kind schädigen kann. Sie selbst hat zwei gesunde Kinder geboren.
Foto: M. Skolimowsk­a, dpa Jule Reuter, die an Epilepsie leidet, steht im Kinderzimm­er und hält eine Tablettenb­ox mit einem Medikament in den Händen, dessen Wirkstoff ein ungeborene­s Kind schädigen kann. Sie selbst hat zwei gesunde Kinder geboren.

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