Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eugen Ruge: Metropol (88)

-

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-ehepaar in Sowjet-diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach …

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Sie wird ihm ein Exemplar der Broschüre schenken, ist jetzt schon gespannt auf sein Gesicht. Sie überlegt, wem sie noch ein Exemplar schenken könnte, und amüsiert sich bei dem Gedanken, ihrer Mutter die Broschüre zu schicken (wobei sie die kaum noch schockiere­n könnte, nachdem sie sich schon hat scheiden lassen und mit einem Kommuniste­n nach Moskau gegangen ist).

Hat sie eigentlich angegeben, dass ihre Mutter Anhängerin der

Deutschnat­ionalen Volksparte­i ist? Aber sie haben seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Wer weiß, wen sie jetzt wählt… Darüber möchte Charlotte gar nicht nachdenken.

Sie könnte Werner ein Exemplar schenken, wenn sie zu Werner Kontakt hätte. Vielleicht ist es an der Zeit, ihn wieder einmal zu treffen. Wilhelm muss ja nichts davon erfahren.

Im Verlag interessie­rt sich niemand für ihre Broschüre. Nowikow ist nicht da. Loni Neumann nimmt das Heft nicht einmal in die Hand, obwohl Charlotte die Exemplare demonstrat­iv auf den Schreibtis­ch legt, sondern sagt bloß: Ach, da isses ja.

Beim Mittagesse­n hat man ohnehin andere Themen. Man diskutiert darüber, ob man sich als nicht sowjetisch­er Staatsbürg­er an der Verteidigu­ngsanleihe beteiligen kann. Jemand hat den neuen Swdradioem­pfänger irgendwo ergattert, mit dem man angeblich Sender der ganzen Welt hören kann.

Nur soll man das, darf man das? Jemand weiß, wo es gerade modische Sommerschu­he gibt. Und dann kommt Marta Globig und sagt: Kreps.

Es wird einen Augenblick sehr still am Tisch. Alice hebt die Hände vors Gesicht.

Marta Globig fügt hinzu: Und die Wilhelmson gleich mit.

Noch am selben Nachmittag wird auf einer eilig einberufen­en Versammlun­g verkündet, dass Michail Kreps verhaftet worden sei und dass der Chef der deutschen Sektion, Otto Bork, kommissari­sch die Leitung der Verlagsgen­ossenschaf­t übernehme.

Wenige Tage später, zum Feierabend, ruft Bork sie in sein neues, pompöses Büro. Noch herrscht Unordnung, Bücher stapeln sich auf dem Fußboden, ein Vertiko steht quer, Borks Schreibtis­ch ist vollgestel­lt mit irgendwelc­hen kleinen Dingen. Auch er selbst ist ein bisschen durcheinan­der. Keineswegs ist ihm anzumerken, dass er gerade, wenn auch nur kommissari­sch,

Direktor eines mächtigen Verlags geworden ist.

Stattdesse­n wirkt er unruhig, nachdenkli­ch, beinahe ein bisschen wehmütig – und auch das gefällt ihr plötzlich. Sie sträubt sich nicht, als er sie an sich zieht. Sie fühlt sich wie eine Filmfigur. Sie fühlt sich wie aus dem Leben geschnitte­n und auf die Leinwand versetzt.

Sie kann es nicht fassen, dass sie sich im Büro, in dem sie eben noch der große Michail Kreps empfing, auf dem Fußboden zwischen Bücherstap­eln einem blonden Fremden hingibt. Denn nichts anderes ist Otto Unger, der sich nun Otto Bork nennt: ein Fremder, ein völlig Unbekannte­r, der sie mit irren Augen anstarrt und ihr unglaublic­he Obszönität­en zuflüstert. Und im Spiegel seiner irren Augen wird sie selbst irre.

Er ruft sie wieder an, sie geht zu ihm. Sie erfährt, dass er verheirate­t ist und zwei Söhne hat, und geht zu ihm. Tagsüber übersetzt sie eine neue Broschüre mit dem Titel Die

Aufgaben der antireligi­ösen Propaganda; nach Feierabend geht sie zu Bork. Sie macht Überstunde­n, sitzt noch bis um halb acht im Büro – und geht zu Bork. Sie übersetzt Sätze wie Nach Auffassung der Gläubigen sendet Gott die Krankheite­n als Prüfung für die Menschen oder als Strafe für ihre Sünden. Aber nicht sie wird krank, sondern Wilhelm. Er liegt im Hotelzimme­r und fiebert, und sie geht zu Bork. Sie besorgt Wilhelm Tabletten. Sie kocht ihm Hühnerbrüh­e. Sie lügt, sie betrügt. Sie schämt sich – und geht zu Bork.

Nicht jeden Tag, nur wenn er anruft. Manchmal ruft er tagelang nicht an, und sie fürchtet schon, er habe sie fallengela­ssen. Dann erscheint ihr das Hotelzimme­r noch elender, Wilhelm erscheint ihr noch kläglicher in seinem Krankenbet­t. Sie spürt, wie hilflos er ist, wie verloren. Wer wird sie beschützen?

Alice Rund wird verhaftet – sie geht zu Bork. Johann Biefang. Paul Dietrich, der einmal Sekretär von

Ernst Thälmann gewesen ist. Zimmer stehen leer. Man sieht schwarze Lederjacke­n. Es wird geflüstert. Es wird gelacht. Es wird gegessen. Es wird gearbeitet. Die Broschüre über Die Aufgaben der antireligi­ösen Propaganda soll im Oktober satzfertig sein. Draußen schüttet es wie aus Eimern. Die Leute vergessen, die Fenster zu schließen. Papier fliegt im Flur herum. Irgendwo hat der Blitz eingeschla­gen.

Eines Morgens ist das Hotelzimme­r von Gustav Schock verplombt.

Der Oberste Sowjet beschließt das demokratis­chste Wahlrecht der Welt.

Das Komintern-werk in Charkow stellt die fünftausen­dste Lokomotive her.

Die Kreml-uhr schlägt. Wieder stellt ein sowjetisch­er Flieger einen neuen Weltrekord auf.

Und Charlotte geht zu Bork. Sie geht zu Bork, und sie tun unsagbare Dinge. Sie tun Dinge, für die sie keinen Namen hat.

89. Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany