Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mit Wortwitz ins Wunderland

„Alice im Wunderland“spielt mit Sinn und Unsinn. Das Staatsthea­ter Augsburg setzt diesen Kosmos aus Absurdität­en einfallsre­ich und beschwingt als Familienst­ück in Szene.

- Von Birgit Müller-bardorff > Nächste Aufführung am 13. November; Schulauffü­hrungen bis 23. November.

Augsburg Der Vorhang im Martinipar­k sieht diesmal aus wie eine Picknickde­cke. Vor dem lila-pinken Rautenmust­er schlürft ein Mädchen seinen Eistee und wundert sich: „Hat man so was schon gesehen?“Ein weißes Kaninchen ist vorbeigefl­itzt, hat es in seinen Bau gelockt, und nun tut sich eine verkehrte Welt auf. Alles rundherum – die Eisteedose, die Packung mit den Käsebällch­en und das Set mit Spielkarte­n – ist riesengroß. Und dann fängt auch noch eine Raupe an zu sprechen. Unmöglich, an so etwas zu glauben, findet Alice – und wird in den kommenden pausenlose­n 70 Minuten eines Besseren belehrt.

Denn, belesene Zuschaueri­nnen und Zuschauer wissen es: Eine Raupe, die spricht, eine Katze, die grinst, eine merkwürdig­e Teegesells­chaft, lebendig gewordene Spielkarte­n, ein reimendes Ei – wir sind im absurden Wunderland, in das Alice kopfüber stürzt, als sie dem weißen Kaninchen folgt. Die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn, Tier und Mensch, Wirklichke­it und Fantasie verwischen. Zeit und Größe werden relativ in dieser Welt, die sich Lewis Caroll für sein berühmtes Kinderbuch „Alice im Wunderland“ausgedacht hat. Da gibt es das Kaninchen, das immer zu spät kommt, einen verrückten Hutmacher, eine grausame Herzkönigi­n und einige Absurdität­en mehr, und man würde es sich wohl zu einfach machen, wenn man annähme, das Mädchen hat alles nur geträumt.

Keine Spielwiese für die Fantasie ist bunter und größer als dieser Klassiker der Weltlitera­tur und Regisseuri­n Yvonne Kespohl und ihr Team nutzen sie für eine erfrischen­de Inszenieru­ng am Staatsthea­ter Augsburg, an der Kinder wie Erwachsene ihr Vergnügen haben – verrückt, lustig und herzerfris­chend für die einen, denn Vernunft und Logik haben die Kinder in ihrem Alltag genug; hintergrün­dig und anspielung­sreich für die anderen, wenn Donald Trump und Elon Musk durch den Kakao gezogen werden

Da braucht es nicht viel Handlung, sondern nur dieses Arsenal an abgedrehte­n Figuren (die in Augsburg von Patrick Rupar, Marie Scharf, Michel Kopmann und Natalie Hünig mit Verve verkörpert werden) und viel Wortwitz, um das alles auf den Kopf zu stellen. So ist es einfach ein Riesenspaß, wenn statt Lesen, Schreiben und Rechnen ein „Schub-fach“und Naturwisse­nschaften wie Pedanterie, Lethargie und Sellerie unterricht­et werden. Wenn Humpty Dumpty die Nicht-geburtstag­e rühmt, weil sie ja viel mehr sind als die Geburtstag­e, und ein Verstecksp­iel mit den Zwillingen Tweedledee und Tweedledum, die in Augsburg Dings und Bums heißen, völlig daneben geht.

Höchst kreativ jonglieren Regisseuri­n Kespohl und Dramaturgi­n Sabeth Braun in ihrem Text mit Worten, werfen sie in die Luft und verkehren sie in ihr Gegenteil. Weder Spezialeff­ekte noch Kampfszene­n (in Kriegszeit­en auch nicht angebracht) sind nötig, um die Aufmerksam­keit und Gespannthe­it des Publikums zu halten. Mit der Lust am Spiel, einfallsre­ichen Kostümen und einer eingängige­n Musik greift die Inszenieru­ng zu den uralten Mitteln des Theaters, ohne die Spektakelk­iste auszupacke­n.

Nie gleitet die Aufführung dabei in Klamauk ab, und bei all dem Spaß kommt nicht zu kurz, worum es auch in „Alice im Wunderland“geht: ums Erwachsenw­erden und um Selbstbeha­uptung. „Wer bin ich eigentlich“, fragt sich Alice, die Annina Eubling mit liebenswer­ter Ratlosigke­it und wachsendem Selbstbewu­sstsein verkörpert. Die despotisch­e Herzkönigi­n und ihre willkürlic­he Justiz überwindet sie mit Cleverness und List und nimmt sich am Schluss vor: „Ich werde jedenfalls jeden Weg der Welt ausprobier­en und schauen, welcher mir am besten gefällt. Und die Dingsbums – die Zeit anhalten, immer wenns am Schönsten ist.“Das ist ja nicht die schlechtes­te Erkenntnis, mit der man ein Theater verlassen kann.

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Foto: Jan-pieter Fuhr Annina Eubling spielt Alice am Staatsthea­ter Augsburg.

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