Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Mit Wortwitz ins Wunderland
„Alice im Wunderland“spielt mit Sinn und Unsinn. Das Staatstheater Augsburg setzt diesen Kosmos aus Absurditäten einfallsreich und beschwingt als Familienstück in Szene.
Augsburg Der Vorhang im Martinipark sieht diesmal aus wie eine Picknickdecke. Vor dem lila-pinken Rautenmuster schlürft ein Mädchen seinen Eistee und wundert sich: „Hat man so was schon gesehen?“Ein weißes Kaninchen ist vorbeigeflitzt, hat es in seinen Bau gelockt, und nun tut sich eine verkehrte Welt auf. Alles rundherum – die Eisteedose, die Packung mit den Käsebällchen und das Set mit Spielkarten – ist riesengroß. Und dann fängt auch noch eine Raupe an zu sprechen. Unmöglich, an so etwas zu glauben, findet Alice – und wird in den kommenden pausenlosen 70 Minuten eines Besseren belehrt.
Denn, belesene Zuschauerinnen und Zuschauer wissen es: Eine Raupe, die spricht, eine Katze, die grinst, eine merkwürdige Teegesellschaft, lebendig gewordene Spielkarten, ein reimendes Ei – wir sind im absurden Wunderland, in das Alice kopfüber stürzt, als sie dem weißen Kaninchen folgt. Die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn, Tier und Mensch, Wirklichkeit und Fantasie verwischen. Zeit und Größe werden relativ in dieser Welt, die sich Lewis Caroll für sein berühmtes Kinderbuch „Alice im Wunderland“ausgedacht hat. Da gibt es das Kaninchen, das immer zu spät kommt, einen verrückten Hutmacher, eine grausame Herzkönigin und einige Absurditäten mehr, und man würde es sich wohl zu einfach machen, wenn man annähme, das Mädchen hat alles nur geträumt.
Keine Spielwiese für die Fantasie ist bunter und größer als dieser Klassiker der Weltliteratur und Regisseurin Yvonne Kespohl und ihr Team nutzen sie für eine erfrischende Inszenierung am Staatstheater Augsburg, an der Kinder wie Erwachsene ihr Vergnügen haben – verrückt, lustig und herzerfrischend für die einen, denn Vernunft und Logik haben die Kinder in ihrem Alltag genug; hintergründig und anspielungsreich für die anderen, wenn Donald Trump und Elon Musk durch den Kakao gezogen werden
Da braucht es nicht viel Handlung, sondern nur dieses Arsenal an abgedrehten Figuren (die in Augsburg von Patrick Rupar, Marie Scharf, Michel Kopmann und Natalie Hünig mit Verve verkörpert werden) und viel Wortwitz, um das alles auf den Kopf zu stellen. So ist es einfach ein Riesenspaß, wenn statt Lesen, Schreiben und Rechnen ein „Schub-fach“und Naturwissenschaften wie Pedanterie, Lethargie und Sellerie unterrichtet werden. Wenn Humpty Dumpty die Nicht-geburtstage rühmt, weil sie ja viel mehr sind als die Geburtstage, und ein Versteckspiel mit den Zwillingen Tweedledee und Tweedledum, die in Augsburg Dings und Bums heißen, völlig daneben geht.
Höchst kreativ jonglieren Regisseurin Kespohl und Dramaturgin Sabeth Braun in ihrem Text mit Worten, werfen sie in die Luft und verkehren sie in ihr Gegenteil. Weder Spezialeffekte noch Kampfszenen (in Kriegszeiten auch nicht angebracht) sind nötig, um die Aufmerksamkeit und Gespanntheit des Publikums zu halten. Mit der Lust am Spiel, einfallsreichen Kostümen und einer eingängigen Musik greift die Inszenierung zu den uralten Mitteln des Theaters, ohne die Spektakelkiste auszupacken.
Nie gleitet die Aufführung dabei in Klamauk ab, und bei all dem Spaß kommt nicht zu kurz, worum es auch in „Alice im Wunderland“geht: ums Erwachsenwerden und um Selbstbehauptung. „Wer bin ich eigentlich“, fragt sich Alice, die Annina Eubling mit liebenswerter Ratlosigkeit und wachsendem Selbstbewusstsein verkörpert. Die despotische Herzkönigin und ihre willkürliche Justiz überwindet sie mit Cleverness und List und nimmt sich am Schluss vor: „Ich werde jedenfalls jeden Weg der Welt ausprobieren und schauen, welcher mir am besten gefällt. Und die Dingsbums – die Zeit anhalten, immer wenns am Schönsten ist.“Das ist ja nicht die schlechteste Erkenntnis, mit der man ein Theater verlassen kann.