Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Wem trauen wir logische Schärfe zu?“
David Ortmann inszeniert auf der Brechtbühne „Ein Volksfeind“, Ibsens lokalpolitischen Krimi um verschmutztes Wasser. In der männlichen Hauptrolle tritt auf: Katja Sieder. Ein Gespräch mit ihr und dem Regisseur.
Herr Ortmann, haben Sie denn eigentlich auch den kompletten Augsburger Stadtrat zu Ihrer Premiere von Ibsens „Ein Volksfeind“an diesem Samstag in die Brechtbühne geladen? Den Stadtrat müssten doch diese grundsätzlichen Auseinandersetzungen zwischen lokalem Wohlstand auf der einen Seite, Gesundheit und Umweltschutz auf der anderen Seite besonders interessieren. Und auch, dass ein abgesicherter Befund durch Stimmmehrheit zu einer Falschaussage erklärt werden kann.
Rein technisch laden wir den Stadtrat zu jeder Premiere ein. Ich denke auch, dass wir im vierten Akt eine ganz normale Stadtratssitzung zeigen. Aber eigentlich produzieren wir den „Volksfeind“ja für das Theaterpublikum – um zu zeigen, wie sich Experten und gewählte politische Vertreter in so einer Sitzung verhalten. Es geht dabei nicht um eine eindimensionale Demonstration von Stadträten als Schießbudenfiguren und von einem weißen Ritter, der an der Politik zerschellt.
Was in „Ein Volksfeind“auf lokaler Ebene abgehandelt wird, dass nämlich einflussreiche Kurbadhonoratioren um des wirtschaftlichen Vorteils willen ein Wassergutachten mit Verschmutzungsnachweis unterdrücken wollen, dies passiert doch auch national und international. Soeben wurde darauf verwiesen, dass die großen Mineralölgesellschaften ihre Co2-bilanz herunterrechnen und dass bei der Weltklimakonferenz weit über 600 Lobbyisten für fossile Brennstoffe registriert sind. Werden solche global grundsätzlichen Fragen über kurzfristige wirtschaftliche Interessen und langfristiges Gemeinwohl in Ihrer Inszenierung der Parabel „Ein Volksfeind“eine Rolle spielen?
Ortmann: Das Wort Parabel finde ich gut. Wir versuchen, dem Modellhaften im „Volksfeind“zu entsprechen. Wir laden das Stück nicht auf – etwa durch Fremdtexte –, aber wir nehmen es sehr ernst. Ich glaube, das Modellhafte aller Beteiligten wird das Publikum bei einer pausenlosen Spielzeit von eineinhalb Stunden geradezu anspringen.
Ist „Ein Volksfeind“nicht in gewisser Weise die Fortschreibung von Friedrich Schillers Äußerung: „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.“
Ortmann: Inhaltlich steht Ibsen auf dieser Ebene. Das lässt sich aus dem Text und aus einem Brief seiner Hand herauslesen. Aber ich weiß nicht, ob er sagen wollte, dass Parlamentarismus überbewertet ist und nur Kluge und Experten entscheiden sollten – oder ob er sagen wollte: So, wie es im „Volksfeind“gezeigt wird, kann es durch beide Seiten nicht funktionieren.
Geschlechtsumwandlungen auf der Bühne sind ja gerade en vogue: Der „Volksfeind“, der Badearzt Dr. Thomas Stockmann, wird in Augsburg zu einer Volksfeindin, gespielt von Katja Sieder. Was ist der Grund dafür?
Ortmann: Schon in unseren letzten Spielzeiten war zu sehen, dass die Entscheidung, ob ein Mann oder eine Frau eine bestimmte Rolle übernimmt, später erfolgt als zum Zeitpunkt der Stückwahl. Dann nämlich, wenn sich solche Fragen stellen wie „Wer kann’s?“, „Wer ist geeignet?“, „Wer ist interessant in einer bestimmten Rolle?“, hier im „Volksfeind“: „Wem trauen wir logische Schärfe zu?“. Es ist auch so: Stockmann ist geschlechtsloser als viele andere Figuren. Das Stück wehrt sich nicht dagegen.
Wird die feminine Besetzung dann also ein Gewinn sein, Frau Sieder?
Katja Sieder: Ich hoffe, ich denke ja. Aber letztlich muss es von außen beurteilt werden. Ich nähere mich der Rolle im Übrigen als ein Mensch. Es geht da um Ratio und um Gedanken. Interessant ist gleichzeitig, dass sich im Spiel solche Fragen eröffnen wie: Inwieweit würde man sich gegenüber einer Frau wirklich so verhalten, wie man sich verhält? Bei uns ist Dr. Stockmann natürlich kein männliches Familienoberhaupt mehr, eher eine Alleinkämpferin.
Wenn Dr. Stockmann zum Volksfeind abgestempelt ist, will er zunächst – so das Stück – nach Amerika auswandern, beschließt dann aber doch, in Schweden vor Ort weiterzukämpfen. Was meinen Sie: Wie würden Sie persönlich handeln, wenn Ihnen im Leben so viel geballte Aggression, solcher Rufmord entgegenschlagen würde? Sieder (nach einer Pause der Überlegung): Ich würde erst einmal bleiben – aus Überzeugung, aus Trotz. Ob das Bleiben dann wirklich unumstößlich ist, bleibt eine andere Frage. Dr. Stockmann entwickelt sich gemäß dem, was in ihr steckt: von der Philanthropin zur Misanthropin. Ich zeige sie nicht nur als Heldin, ich zeige auch ihre unangenehme Seite.