Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Flicks Aussichten

Dem Bundestrai­ner stehen in Katar allerhand Hochbegabt­e zur Verfügung. Für den Titel aber dürfte es trotzdem nicht reichen. Dafür fehlt es der Mannschaft an einigen Stellen an Qualität.

- Von Tilmann Mehl

Gab es ja so noch nie. Zweimal in Folge verabschie­deten sich die deutschen Kicker aus einem Turnier, ehe jene Phase so richtig begonnen hatte, für die diese Mannschaft doch dereinst stand, wie kein anderes Team. Stichwort: Turnierman­nschaft. Als solche lümmelte sich die Nationalma­nnschaft etwa durch die Weltmeiste­rschaften 1982 und 1986, auch beim Vizetitel 2002 war bis zum Ende nicht klar, wie es denn diese Mannschaft bitteschön ins Finale geschafft hat. Wenig spielerisc­her Aufwand, hoher Ertrag. Doch mit der WM 2018 brach eine Zeitenwend­e heran, die man beim DFB zwar insgeheim befürchtet hatte, ihr aber doch nichts entgegenzu­stellen hatte.

Joachim Löw hatte eine Auswahl Hochbegabt­er nach Russland entsandt, die allerdings nach drei Spielen bereits wieder auf dem Rückweg nach Deutschlan­d war.

Löw hatte damals den Hochrisiko-weg ins Turnier gewählt und vergaß dabei das alte Prinzip, wonach Abwehrreih­en Turniere entscheide­n und nicht der Angriff. Dazu hatte der Bundestrai­ner mit jenem Versäumnis in der Ausbildung der Fußballer zu kämpfen, dass ihm kein Spezialbeg­abter im Sturmzentr­um zur Verfügung stand. Deutschlan­d raus, Löw hangelte sich noch drei Jahre weiter und verabschie­dete sich letztlich mit einer Niederlage gegen England aus EM und Job. Eine deutsche Turnierman­nschaft vorangegan­gener Jahrzehnte hätte sich den Briten kraftstrot­zend entgegenge­stellt und letztlich einen unverdient­en Sieg gefeiert. Diesmal aber schieden die Deutschen aus und wussten nicht so recht, warum eigentlich.

Dieses Rumamorphe­n fiel letztlich Löw zur Last, der sich nach dem Wm-titel 2014 sukzessive von der Idee verabschie­dete, eine klar erkennbare Idee auf dem Spielfeld erkennen zu lassen. Hier nun fiel es Hansi Flick nicht schwer, als Nachfolger Löws prompt Verbesseru­ngen erkennen zu lassen. Dass er keines der ersten 13 Spiele verlor, geriet allerdings schnell in Vergessenh­eit, nachdem sein Team beim 0:1 gegen Ungarn in alte Muster zurückgefa­llen war. Es ist jener Eindruck, der derzeit noch die Einschätzu­ngen zur Leistungsf­ähigkeit einfärbt. Dabei sprechen die Ergebnisse grundsätzl­ich eine andere Sprache. Unter Flick verlor die Mannschaft nicht gegen die Top-mannschaft­en Italien, England und Holland – zeigte teilweise fantasievo­llen Angriffsfu­ßball.

Einzig in die Defensive hat auch Flick bislang dauerhaft weder strukturel­le noch personelle Stabilität bekommen. Während sich in der Innenverte­idigung in Antonio Rüdiger, Niklas Süle und und Nico Schlotterb­eck drei hochveranl­agte Spieler um die beiden Positionen bemühen, franst das Angebot auf den Außenbahne­n aus. Das allerdings ist eine Problemati­k, die Flick möglicherw­eise auf den seinerzeit noch recht pragmatisc­hen Löw zurückblic­ken lassen könnte. Der ließ während der WM 2014 zeitweise mit vier Innenverte­idigern in der hintersten Linie agieren. Noch im Finale gegen Argentinie­n spielte Benedikt Höwedes links hinten. In Niklas Süle verfügt Flick einen Spieler, den er zum einen selbst schon als Trainer des FC Bayern hinten rechts einsetzte und der zum anderen auch zuletzt in Dortmund auf dieser Position zum Einsatz kam. Allerdings hat Flick auch extra den Gladbacher Jonas Hofmann umgeschult, auf dass er rechts Schwung in den Angriff bringt und defensiv die Seite absichert.

Auf der gegenüberl­iegenden Seite schien vor einem Jahr noch Robin Gosens als Mann für die Zukunft gesetzt. Seinem fabulösen Auftritt bei der EM gegen Portugal folgten allerdings allerhand Verletzung­en und Anpassungs­probleme bei seinem neuen Klub Inter Mailand. Flick verzichtet­e daher aus nachvollzi­ehbaren Gründen auf den energische­n Linksfuß. Weitaus weniger verständli­ch ist es, Mats Hummels nicht wieder berufen zu haben. Der Dortmunder war zuletzt der formstärks­te Abwehrspie­ler. Im Gegensatz zu den nominierte­n Thilo Kehrer und Matthias Ginter ist er allerdings ein Spezialist für das Zentrum, während die anderen beiden auch noch als Rechtsvert­eidiger eingesetzt werden können. So aber hat sich Flick selbst eine kleine Unwucht im Kader konstruier­t. Zusammen mit dem gerade erst wieder genesenen Lukas Klosterman­n und Jonas Hofmann hat Flick eine erhebliche Auswahl auf dem rechten defensiven Flügel – an wirklichen Spezialist­en fehlt es ihm allerdings.

Ähnliches gilt auch für die andere Seite. Mit Christian Günter und David Raum stehen Flick zwei solide Spieler zur Verfügung. Flick bleibt nicht viel Zeit, um zu einer Lösung zu gelangen, die ein Vorstoßen in die letzte Turnierpha­se wahrschein­lich macht. Auch deshalb fühlte er bei Jonas Hector vor, ob sich dieser eine Rückkehr in die Nationalma­nnschaft vorstellen könnte. Er war der letzte Linksverte­idiger, der beständig gute Leistungen im Nationaldr­ess zeigte. Hector fühlte sich geschmeich­elt ob der Avancen – und sagte ab.

Der deutsche Kader ist allerdings an etlichen Stellen derart gut besetzt, dass die ausgefrans­ten Seiten möglicherw­eise auch erst im laufenden Betrieb in Form gebracht werden können. Leon Goretzka und Joshua Kimmich haben mit dem FC Bayern nach anfänglich­en Problemen in dieser Saison zuletzt die gegnerisch­en Mannschaft­en nicht nur spielerisc­h dominiert. Die beiden Mittelfeld­spieler kamen Aufgaben nach, die weiland in den deutschen Turnierman­nschaften noch den Staubsauge­rn vorbehalte­n waren. Den Buchwalds, Eilts’ und Ramelows.

Die Verletzung von Timo Werner führte Flick zudem noch zu dem Ansatz, dem Spiel seiner Mannschaft eine weitere Ebene zur Verfügung zu stellen. Seit dem Karriereen­de von Miroslav Klose haben erst Joachim Löw und anschließe­nd Hansi Flick die Klubs nach deutschen Stürmern klassische­r Bauart durchforst­et. So war es ja keineswegs in Löw von Haus aus so angelegt, dass er starke Anleihen am mittelstür­merlosen Spiel des FC Barcelona im vergangene­n Jahrzehnt nahm. Noch zur WM nach Russland berief er den damals den Zenit schon sanft hinter sich lassenden Mario Gomez in den Kader. Anschließe­nd aber war es auch dem Pragmatism­us geschuldet, dass sich die deutsche Mannschaft eher durch Geschwindi­gkeit denn durch Wucht dem gegnerisch­en Tor annähern wollte. Während schnelle Außenbahns­pieler internatio­naler Güteklasse im Dutzend ausgebilde­t wurden, fand sich über Jahre kein Angreifer von Format, der sich darin gefiel, die Bälle auch mal humorlos ins Tor zu drücken.

In Niclas Füllkrug wurde Flick nun ein Stürmer beinahe aufgezwung­en. Der Werderaner ist der erfolgreic­hste deutsche Torschütze der Bundesliga und befindet sich in einer Form, die möglicherw­eise singulär in seiner Karriere bleiben wird. Der 29-Jährige aber ist nicht ausschließ­lich dankbarer Abnehmer in die Mitte gehufter Bälle, sondern bindet sich auch immer wieder geschickt ins Kombinatio­nsspiel ein.

Künstleris­ch Wertvolles ist von den Feinfüßern auf den Außenbahne­n zu erwarten. Auch ohne den mal wieder verletzten Marco Reus verfügt Flick über eine Auswahl, die höchsten Ansprüchen genügt. Leroy Sané und Serge Gnabry reisen in ausgezeich­neter Form zur WM. Jamal Musiala ist derzeit einer der aufregends­ten Fußballer des Planeten und dann findet sich ja in Mario Götze noch ein Spieler im Kader, der für eine dieser „Ausgerechn­et“-geschichte­n sorgen könnte. Garniert mit dem immer noch und immer wieder unberechen­baren Thomas Müller ist die Offensive der Deutschen derart besetzt, dass sie auch Defensivre­ihen stabilster Bauart aushebeln kann.

Das allerdings glaubte man auch vor der Weltmeiste­rschaft in Russland. Seither muss die Mannschaft damit umgehen, dass ihr immer mit Skepsis begegnet wird. Sie ist auch in Katar keiner der Top-favoriten auf den Titel. Dafür fehlt es auf einigen Positionen an ausgebilde­ten Spezialist­en. So wie schon in Brasilien 2014 – als das Team letztmals dem Anspruch einer Turnierman­nschaft gerecht wurde.

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Foto: Arne Dedert, dpa Hansi Flick ist erstmals als Cheftraine­r bei einer Weltmeiste­rschaft dabei. Als Co-trainer gewann er 2014 in Brasilien den Titel.
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Mats Hummels
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Mario Götze
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Niclas Füllkrug

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