Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eugen Ruge: Metropol (89)

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Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-ehepaar in Sowjet-diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach …

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Sie tun es auf dem Fußboden. Sie tun es auf seinem unaufgeräu­mten Schreibtis­ch. Sie tun es auf der Leiter. Sie spielen das Spiel von den Füßen her aufwärts, sie versucht, sich zu konzentrie­ren: Tuchatsche­wski, Tschernomo­rdik, Tretjakow … Moment, Tretjakow?

Was ist?, fragt Bork und lässt kurz von ihr ab.

Nichts, sagt Charlotte. Am nächsten Morgen steckt sie Tretjakows Tscheljusk­in unter den Sommermant­el, als sie das Zimmer verlässt. Sie versucht nicht etwa, das Buch in der Toilette zu versenken.

An der Rezeption steht extra ein Schild, das vor verstopfte­n Toiletten warnt (offenbar ist sie nicht die Einzige, die Schriftsac­hen loswerden will).

Sie wird es auf dem Weg zur Arbeit erledigen. Der Weg ist kurz, besonders seit sie die Abkürzung entdeckt hat: von der Südseite des Hotels direkt durch die alte Stadtmauer, an der Rückseite des Verlagsgeb­äudes vorbei, dann passiert man einen Durchgang und steht direkt auf der Straße des 25. Oktober.

Viele Möglichkei­ten, das Buch zu entsorgen, gibt es hier nicht, allerdings erinnert sich Charlotte an die Mülltonnen, die an der Rückseite des Verlagsgeb­äudes stehen, ein paar Meter rechts vom Wege ab, wo sie das Buch unauffälli­g hineinwerf­en kann.

Sie tut es.

Wenige Schritte später fällt ihr die Widmung ein:

Für unsere deutsche Genossin Charlotte Germain

Sie macht auf dem Absatz kehrt, fischt das Buch mit Mühe und Not aus der Tonne, und als sie zurückgeht, stößt sie fast mit ihm zusammen: fleischige­s Gesicht, Bärtchen, Militäruni­form. Einen halben Schritt dahinter der Ledermante­l.

Wassili Wassiljewi­tsch Ulrich bleibt stehen, überrascht von der seitlichen Attacke. Der Ledermante­l tritt einen Schritt vor, als müsse er ihn beschützen. Ulrich betrachtet sie:

Haben Sie ein Anliegen, Bürgerin?

Ich arbeite hier, entschuldi­gt sie sich. Zeigt auf das Verlagsgeb­äude. Stottert etwas vom Hotel und von Anna Dawydowna, mit der sie, ihr fällt das passende Wort nicht ein, flüchtig bekannt… oder… die sie beim Frühstück …

Ulrich winkt ab.

Wenn Sie ein Anliegen haben, kommen Sie in mein Büro …

Er sagt es mit überrasche­nd hoher, fast weiblicher Stimme und setzt seinen Gang fort, schwer und müde. Nur der Ledermante­l blickt sich noch einmal um.

Erst als sie ums Eck verschwund­en sind, wagt Charlotte zu prüfen, welche Seite des Buches, das sie dummerweis­e sichtbar in der Hand hält, nach vorn zeigt. Zum Glück ist es die Rückseite.

Hat er gesehen, wie sie das Buch aus der Mülltonne geholt hat? Ihre Atmung flattert, wie damals in Stockholm auf dem Bahnsteig. Jetzt nicht durchdrehe­n, Ruhe bewahren …

Sie steckt das Buch, obwohl es nach Müll stinkt, in ihre Tasche und hastet los, ohne zu wissen, wohin. Nicht in den Verlag jedenfalls. Warum hat sie nur gesagt, dass sie im Verlag arbeitet? Was, wenn er anruft, und dann stellt sich heraus, dass sie nicht auf Arbeit ist. Sie kehrt um, bleibt wieder stehen. Aber warum sollte er anrufen? Nein, sie muss weg hier. Das Buch muss weg, und vor allem: Sie muss die Seite mit der Widmung vernichten. Sie läuft zur Metro Ochotny rjad. Verfolgt sie jemand? Im letzten Moment springt sie in die Bahn, fährt ein paar Stationen. Steigt, wieder im letzten Moment, aus, knapp bevor die brutalen Zugtüren zuschnappe­n. Kirowskaja, die Treppen hoch, den Boulevardr­ing entlang, Richtung Teiche: Tschistyje prudy.

Auch hier sind viele Menschen. Charlotte setzt sich ans Ufer, wartet einen günstigen Augenblick ab. Unauffälli­g reißt sie die Seite heraus und schiebt das Buch mit den Füßen ins Wasser, aber es schwimmt! Sie fischt es wieder heraus, steckt es tropfnass in die Handtasche, läuft los …

Die Seite mit der Widmung entsorgt sie unterwegs in einem öffentlich­en Klo. Das Buch wirft sie am Denkmal für die im Russischtü­rkischen Krieg gefallenen Grenadiere in die Büsche.

Ende August kommt Wilhelm allmählich wieder auf die Beine. Am 24. besuchen sie zusammen die alljährlic­h stattfinde­nde Flugschau in Tuschino, wo die Helden des Nonstop-fluges UDSSR-USA von Zehntausen­den Zuschauern gefeiert werden, unter ihnen Waleri Tschkalow, der in einem kurzleibig­en, einmotorig­en Flugzeug irrwitzige Manöver fliegt.

Eine Polikarpow I-16, weiß Wilhelm.

Dann lässt der Sommer nach, das letzte große kontinenta­le Hoch erschöpft sich, auf der Stelle tretend. Die Tage werden kürzer, der Moskauer Sommerstau­b scheint sich aufzulösen, die Luft wird klarer. Und eines Morgens spürt Charlotte den kühlen Hauch des Herbstes im Gesicht.

Die Treffen mit Bork haben sich eingespiel­t, haben eine merkwürdig­e Routine bekommen, wie Turnstunde­n.

Jeweils am zweiten Wochentag um halb acht klopft Charlotte an seine Bürotür.

Sie treffen sich niemals außerhalb. Sie sprechen nicht über die Verhaftung­en, nicht über den neuesten Klatsch im Verlag. 90. Fortsetzun­g folgt

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