Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eine Stadt im Freudentau­mel

In Cherson feiern die Menschen ihre Befreiung auf dem „Platz der Freiheit“. In der Ferne sind Explosione­n zu hören. Ist der Abzug der Russen am Ende eine Falle? An Gefahren will an diesem Tag niemand denken.

- Von Till Mayer

Cherson Ritschi ist ein außerorden­tlich subversive­r Hund. Zumindest aus Sicht russischer Truppen. Ein kleiner Widerstand­skämpfer auf vier Pfoten. Sein Frauchen hatte dem Vierbeiner einen Pullover gestrickt, gelb-blau geringelt. „Am ersten Tag der Invasion habe ich damit angefangen“, sagt Nastya voller Stolz. Als der Pullover fertig war, schnappte sie sich die Leine und ging mit Ritschi spazieren.

„Der Hund lief natürlich in ukrainisch­en Farben los. So haben die Russen gemerkt, dass wir beide sie hier nicht haben wollen“, sagt Frauchen voller Stolz. Sie lacht leise. Dann kommen ihr die Tränen: „Die langen Monate der Besatzung waren furchtbar. Es ist nicht so, dass ich keine Angst hatte.“Vielleicht wussten die russischen Besatzer nicht so recht, wie sie es mit einem Hund in ukrainisch-patriotisc­hem Pullover halten sollten. Ritschi und sein Frauchen blieben unbehellig­t, andere hatten weniger Glück.

Jetzt am Wochenende dominieren die ukrainisch­en Farben auf dem Hauptplatz. Ritschi mit seinem blau-gelben Hundepullo­ver ist hier und jetzt genau am richtigen Ort: auf dem „Platz der Freiheit“. Er blinzelt ein wenig auf dem Arm von Nastya. Der Hund wird sich wohl freuen, dass er es im feuchtkalt­en Herbst draußen schön warm hat. Menschenma­ssen kommen zusammen, schwenken Fahnen, um den Abzug der Besatzer zu feiern. Diese haben laut russischen Angaben die Stadt in den frühen Morgenstun­den des Freitags verlassen. Vor allem auf dem Hauptplatz strömen die Menschen zusammen. Frauen stimmen das patriotisc­he Lied über die „rote Kalyna“an. Am Rand der nahen Straße jubeln die Menschen jedem ukrainisch­en Militärfah­rzeug zu, das vorbeiratt­ert. Andere halten aus Autofenste­rn wehende Fahnen heraus.

Ab und an hält ein Militärfah­rzeug. Was dann passiert, vergessen die Soldaten wohl ein Leben lang nicht. Weinende Großmütter umarmen sie. Teenager wollen Selfies mit ihnen. Andere drücken den Kämpfern Blumen in die Hand. Auf der Ladefläche des Pick-ups von Soldat Andrii liegen gleich mehrere Sträuße und das symbolisch­e Willkommen­sbrot.

Der 35-Jährige hat mit seinen Kameraden eine Verbindung zu einem Satelliten aufgebaut. „Damit die Leute mit ihren Smartphone­s online gehen können, sie Freunden und Verwandten ein Lebenszeic­hen geben können“, sagt er. Das Angebot wird umfassend genutzt, eine Menschentr­aube hat die Smartphone­s gezückt. Derweil gibt der Soldat im Akkord Autogramme meist auf kleine Ukraine-fähnchen, die ihm von allen Seiten entgegenge­streckt werden. „Das ist ja völlig verrückt.“Ein Lächeln zieht sich über das bärtige Gesicht des 35-Jährigen.

Andrii hatte ein herzliches Willkommen erwartet. „Aber nicht, dass wir Soldaten hier fast wie Rockstars empfangen werden“, sagt er lachend. Aber es tut ihm gut. Viele der Soldaten, die mit Geländewag­en und Trucks vorbeiraus­chen, erlebten in den vergangene­n Monaten als Frontkämpf­er harte Zeiten. Es ist keine Parade, die an den Feiernden vorbeifähr­t, sondern Pick-ups, in denen Maschineng­ewehre und Panzerfäus­te liegen. Kampfberei­te Soldaten sitzen am Steuer. Die ukrainisch­e Armee beeilt sich, die strategisc­h wichtigen Punkte abzusicher­n. Nicht wenige wittern eine Falle, etwas Schlimmes, das noch passieren kann.

Hupende Autos, singende Frauen, „Putin Buuuhh“und „Slava Ukraini“-rufe hallen über den Platz und die angrenzend­e Straße. Stille ist keine angesagt bei der Freude über die Befreiung. Oder doch? Wer den Menschen in die Gesichter sieht, blickt nicht selten in Augen, in denen die Tränen stehen. Eine ältere Frau hält ihre Freundin fest im Arm, als deren Schultern zu zucken beginnen.

Der „Platz der Freiheit“hat seinem Namen schon zu Beginn der Invasion Ehre gemacht. Bereits am 27. Februar drangen russische Truppen in Cherson ein, am 2. März hatten die Besatzer die Stadt de facto unter Kontrolle. Die Südfront entwickelt­e sich schnell zum Problemfal­l der ukrainisch­en Verteidige­r. Doch auch wenn Cherson schnell fiel, die Menschen der Stadt zeigten viel Mut.

Mascha ist erst 19 Jahre alt, dreimal war sie Anfang März auf dem „Platz der Freiheit“, um gegen die Besatzung zu demonstrie­ren, berichtet sie. „Es sah ähnlich aus wie jetzt, viele hatten ukrainisch­e Fahnen mitgebrach­t.“Doch die Situation war gefährlich. „Wir standen für unsere Freiheit auf“, sagt sie. Bis die russischen Soldaten sie mit Tränengasg­ranaten auseinande­rtrieben. „Mein Gott, hat das in den Augen gebrannt. Zwei Tage lang hat es danach noch höllisch geschmerzt“, sagt die junge

Frau, die mit ihren Freunden Oleksiy und Oleksandr auf dem Platz steht. Alle drei haben sie ukrainisch­en Fahnen um ihre Schultern gelegt.

Dann fügt die 19-Jährige hinzu: „Das hier ist Ukraine. Punkt.“Die Scheinrefe­renden der russischen Besatzer, deren Plakate gerade Stück für Stück von den Werbetafel­n gerissen werden, für Mascha und ihre Freunde waren sie ein schlechter Witz. „Aber umso besser, dass Putin jetzt sein Gesicht doppelt verliert“, wirft eine Dame mit Strickmütz­e ein.

Mascha ist ein junge Frau, die sagt, was sie denkt. „Das hat mich bei den Russen drei Tage ins Gefängnis gebracht“, sagt Mascha. Die 19-Jährige hatte in einem kleinen Restaurant gearbeitet. Eines Tages saßen dort tschetsche­nische Kämpfer. „Denen habe ich erzählt, was ich von ihnen halte“, erinnert sich die junge Frau. Kadyrows Einheiten sind berüchtigt für ihre Grausamkei­t. Ihnen werden zahlreiche Kriegsverb­rechen zulasten gelegt.

Wenig später wurde Mascha verhaftet. „Drei Tage lang haben sie mich in einer Polizeiwac­he eingesperr­t. Ich bekam nichts zu essen, nur etwas zu trinken. Und jede Menge Drohungen“, so Mascha. „Mein Vater

war auch im Gefängnis, weil er angeblich einen Treffpunkt für den ukrainisch­en Widerstand betrieben haben soll. Wie zu Stalins Zeiten hat ihn die Lüge eines Nachbarn in die Situation gebracht. Es war wieder Spitzelei angesagt, als uns die Russen besetzten. Mein Vater hat eine schlimme Zeit erlebt“, sagt der 18-jährige Oleksiy.

Dann spielt Mascha noch ganz stolz einen kleinen Clip auf ihrem Smartphone

Tränen mischen sich in den Jubel der Begeisteru­ng

Es gab Spitzelei wie zu Zeiten Stalins

ab: „Mit Rubel-scheinen haben wir die russische Fahne angezündet. Freiheit ist unbezahlba­r.“Doch es wird kaum einen auf dem Platz geben, der nicht davon überzeugt ist, dass sie bald von neuen Kriegsverb­rechen und Menschenre­chtsverlet­zungen hören werden. Wie aus all den anderen Gebieten, die unter russischer Besatzung standen und befreit wurden. Organisati­onen wie Human Rights Watch oder Amnesty Internatio­nal bestätigen Kriegsverb­rechen in zahlreiche­n Berichten.

Mascha verabschie­det sich. „Vielleicht trifft man noch gute Freunde. Und das endlich wieder in Freiheit“, sagt Mascha. Sie ist dafür bereit, einen hohen Preis zu bezahlen. Noch während die Menschen den Abzug der russischen Armee aus ihrer Stadt feiern, hört sie in der Ferne dumpfe Explosione­n. Putin traut man hier auf dem Platz so ziemlich alles zu. Städte wie Mariupol oder Charkiw zeigen seine rücksichts­lose Kriegsführ­ung. Vor den Folgen fürchten sich auch die rund 80.000 Menschen, die in der Stadt geblieben sind. Vor der Invasion lebten in Cherson knapp 300.000 Einwohneri­nnen und Einwohner. Aber heute wollen sie daran nicht denken, sondern die zurückgewo­nnene Freiheit feiern, die dem Platz den Namen gegeben hat.

 ?? Fotos: Till Mayer ?? Hupende Autokorsos, ukrainisch­e Fahnen überall: die Menschen von Cherson feiern ihre Befreiung. Nur noch 80.000 von ehemals 300.000 Einwohnern leben in der Stadt.
Fotos: Till Mayer Hupende Autokorsos, ukrainisch­e Fahnen überall: die Menschen von Cherson feiern ihre Befreiung. Nur noch 80.000 von ehemals 300.000 Einwohnern leben in der Stadt.
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Nastya hatte am Tag der Invasion angefangen, für ihren Hund Ritschi einen Pulli in den ukrainisch­en Farben zu stricken.
 ?? ?? Ukrainisch­e Soldaten müssen – fast schon gefeiert wie Rockstars – Autogramme geben. Vorzugswei­se auf ukrainisch­en Fahnen.
Ukrainisch­e Soldaten müssen – fast schon gefeiert wie Rockstars – Autogramme geben. Vorzugswei­se auf ukrainisch­en Fahnen.

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