Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Augsburger Experte kritisiert Triage-gesetz heftig
Das im Bundestag beschlossene Gesetzeswerk stößt unter Fachleuten auf deutliche Kritik. Der Notfallmediziner Axel Heller spricht von einem „Lauterbach’schen Einknicken“.
Augsburg Vor ziemlich genau einem Jahr war es in Augsburg vorbei mit den abstrakten Diskussionen. Das Schreckensszenario Triage stand unmittelbar bevor – in 16 Krankenhäusern in Nordschwaben war zu dieser Hochphase der Corona-pandemie noch exakt ein Intensivbett frei. Leitende Ärztinnen und Ärzte sahen sich also mit der Frage konfrontiert, wer zuerst behandelt werden sollte, wenn tatsächlich kein Bett oder Beatmungsgerät mehr zur Verfügung stünde. Nur ein logistischer Kraftakt, Abtransporte durch Bundeswehr-flieger und wohl auch schlicht Glück verhinderten, dass es dazu kam. Um künftig besser vorbereitet zu sein, hat der Bundestag nun ein sogenanntes „Triage-gesetz“beschlossen. Doch es hagelt Kritik – am lautesten aus Augsburg.
Maßgebliches Kriterium bei der Zuteilung von lebensrettenden
Maßnahmen soll dem Gesetz zufolge die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“eines schwerkranken Menschen sein. Alter, Behinderung und Grad der Gebrechlichkeit dürften dabei keine Rolle spielen, genauso wenig die ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung. Im vergangenen Jahr hatte das Bundesverfassungsgericht ein neues Triage-gesetz verlangt, da im aktuellen Infektionsschutzgesetz verbindliche Vorgaben bislang fehlten.
Die nun beschlossene Regelung erfährt aber heftigen Gegenwind. Axel Heller, ärztlicher Leiter der Krankenhaus-koordinierung im Raum Augsburg und als solcher im vergangenen Jahr maßgeblich für die Verteilung von Covid-patienten zuständig, spricht von einer „kompletten Themaverfehlung“. Teils seien unnötige Regelungen getroffen worden, da entsprechende Leitlinien bereits umgesetzt würden. Einzelne Vorgaben hält Heller wiederum für „absolut falsch“– allen voran, dass die sogenannte Ex-post-triage gestrichen wurde. In diesem Szenario wird die Behandlung von Patient A abgebrochen, um mit den freigewordenen Ressourcen einen Patienten B behandeln zu können, dessen kurzfristige Überlebenschancen besser stehen. Ärztinnen und Ärzte, die so vorgehen, machen sich wegen Totschlags strafbar – daran ändert auch das neue Gesetz nichts. „Dabei kann die Ex-posttriage Leben retten – das zeigen unsere Modellierungen eindeutig“, betont Heller. Medizinischer Sachverstand sei unzureichend berücksichtigt worden, dies sei „sehr ärgerlich“.
War die Ex-post-triage zunächst noch Teil früherer Entwürfe, wurde sie bis zur Abstimmung im Bundestag gestrichen. Heller bezeichnet dies als „Lauterbach’sches Einknicken vor Partikularinteressen“. Sozialverbände hatten vehement gefordert, die Expost-triage aus dem Gesetz zu entfernen, da so etwa Menschen mit Behinderung möglicherweise benachteiligt würden. Heller betont, er könne solche Vorbehalte nachvollziehen. Diese seien allerdings nur „Annahmen“und „mehr Bauchgefühl als sachlich gerechtfertigt“. Die Ex-post-triage nach der bisherigen Leitlinie erhöhe gerade die Überlebenswahrscheinlichkeit von vulnerablen Patientengruppen. Dies zeige eine Simulationsstudie, an der auch Wirtschaftswissenschaftler Prof. Jens Brunner von der Uni Augsburg beteiligt war.
Auch die Bundesärztekammer und medizinische Fachgesellschaften sehen das Triage-gesetz kritisch – insbesondere wegen fehlender Rechtssicherheit für die betroffenen Ärztinnen und Ärzte, aber auch, weil in der aktuellen Fassung weder die ärztliche Indikation noch der Patientenwille verankert sind. Heller plädiert dafür, in einen „versachlichten Dialog“mit Sozialverbänden und Politik zu treten und kündigt an, eine Verfassungsklage zu unterstützen. Dieser Weg sei „alternativlos“, das aktuelle Gesetz im Klinikalltag „nicht praktikabel“.