Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Die Abhängigkeit von China macht Deutschland erpressbar“
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm berät die Regierung und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. So hält sie den Einstieg Pekings bei einem Terminal des Hamburger Hafens für fragwürdig. Ein Gespräch über Wirtschaft, Gleichberechtigung, Rap-musik und Jugen
Frau Professor Grimm, die Verhandlungen über eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von den hohen Energiepreisen dauerten im Finale 35 Stunden an. Konnten Sie sich wenigstens einige Stunden zum Schlafen zurückziehen?
Veronika Grimm: Die letzte Nacht haben wir durchgemacht. Doch unser Einsatz in der Gaspreis-kommission hat sich gelohnt. Unsere Vorschläge erfüllen eine ganze Reihe der Zielvorgaben, und die Politik setzt sie jetzt weitgehend um. Das wünscht man sich in der Politikberatung, es erfüllt sich aber selten. Dafür lohnt es sich auch mal, auf Schlaf zu verzichten.
Das muss man mögen.
Grimm: Ich war immer schon ein Nachtmensch. Ich habe oft nachts gearbeitet.
Als Ökonomin?
Grimm (lacht): Ja, durchaus. Wenn man etwa an einem Beweis oder einem Text sitzt, dann lässt man nicht den Stift fallen oder schaltet den Rechner aus. Aber auch davor habe ich schon eher nachts und spät abends gearbeitet. In der Gastronomie, im Jugendzentrum, in Clubs als DJ und in der Altenpflege.
Sie mögen besonders Rap-musik.
Grimm: Richtig, seit den 1980er Jahren. Damals hat die Musik die Gewalt auf der Straße kanalisiert – die „Battles“wurden dann mehr im Club als Rap Contests ausgetragen. Es ging in den Texten viel um politische und soziale Themen, Missstände wurden angeprangert. Auch musikalisch wurde das Spektrum erweitert auf elektronische Elemente und den DJ, der eine aktive Rolle in der Band hatte. Das gefiel mir gut.
Wollten Sie immer Ökonomin werden?
Grimm: Nein, es hat sich am Ende so ergeben. Ursprünglich haben mich soziale Themen interessiert, aber auch Mathematik und das Handwerk. Ich habe früher viel getischlert. Ich habe aber dann ein Soziologiestudium begonnen.
Doch Sie sind nicht bei der Soziologie geblieben.
Grimm: Es hat mich in den Seminaren gestört, dass dort viel diskutiert wurde, obwohl viele die Seminararbeiten der anderen gar nicht gelesen hatten. Im Nebenfach habe ich damals schon Volkswirtschaft studiert. Gerade Seminare über Umwelt-ökonomie und Spieltheorie haben mich begeistert. Ich habe im Hauptfach auf Volkswirtschaft umgesattelt.
Das war der Beginn einer Wissenschaftskarriere, der Ihnen den Volkswirtschaftslehrstuhl an der Uni Erlangen-nürnberg einbrachte und Sie Wirtschaftsweise werden ließ. Wie haben Sie Familie und Karriere unter einen Hut gebracht?
Grimm: Mein erstes Kind habe ich in Spanien bekommen, als ich nach meiner Promotion dort an der Uni in Alicante gelehrt habe. In Spanien war es bei den Frauen üblich, nach dem im Vergleich zu Deutschland kürzeren Mutterschutz wieder zu arbeiten. Das hat alles gut geklappt, es macht schon einen großen Unterschied, ob etwas die Regel oder die Ausnahme ist.
Ist das alles wirklich so einfach?
Grimm: Natürlich nicht. Man braucht schon ein dickes Fell, wenn man in Vollzeit den Beruf und die Familie vereinbaren will, und man muss sich Hilfe organisieren. Jede und jeder muss selbst entscheiden, wie er oder sie das ausbalanciert. Bei uns hat das gut funktioniert – aber es ist natürlich oft anstrengend und mit Schlafentzug verbunden. Insbesondere, wenn die Kinder klein sind.
Können Frauen heute leichter in der Wissenschaft Karriere machen? Immerhin sind drei der fünf Wirtschaftsweisen Frauen.
Grimm: Es ist leichter, aber es gibt noch viele Hürden. Kinderbetreuungskapazitäten sind immer noch nicht gut ausgebaut. Man bekommt zwar einen Platz, aber ein Vollzeitjob ist damit nicht kompatibel. Wer das nicht schafft, ob berufstätig oder sozial benachteiligt, dessen Kinder haben ein bisschen das Nachsehen. Die Berufstätigen mit gutem Gehalt können sich da vielleicht noch organisieren, andere fallen unten durch. Außerdem werden Mädchen immer noch anders als Jungs erzogen. Hier gibt es nach wie vor andere Rollenmuster: Frauen lernen nicht, anzuecken und sich auch mal unbeliebt zu machen, um sich durchzusetzen. Das rächt sich zuweilen auch im Berufsleben.
Haben Sie das auch als Fußballtrainerin beobachtet?
Grimm: In der Tat. Ich habe eine Jugendmannschaft trainiert, in der Mädchen und Jungs spielen. Jungs gehen viel selbstverständlicher mit dem Wettbewerb um. Sie können im Gegensatz zu Mädchen knallhart sein, um eine bestimmte Position zu ergattern oder überhaupt aufgestellt zu werden. Wenn Jungs leer ausgehen, versuchen sie sich wieder durchzusetzen. Das ist bei Mädchen anders. Die Jungs hatten auch oft eine höhere Frustrationstoleranz als Mädchen.
Wie zeigt sich das?
Grimm: Wenn der Schiedsrichter unfair gegen sie pfeift, denken sie sich: Jetzt erst recht. Mädchen hingegen denken sich: Das kann nichts werden, wenn der Schiedsrichter gegen uns ist. Aufmüpfige Jungs werden durchaus wohlwollend betrachtet, aufmüpfige Mädchen kriegen Gegenwind.
Mütter und Väter fragen sich, wie sie finanziell im Winter über die Runden kommen, auch wenn die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger entlastet. Reichen die Energiekosten-bremsen aus?
Grimm: Das hängt stark davon ab, wie die Gaspreisbremse umgesetzt wird. Um sicher durch den Winter zu kommen, sind wir vor allem darauf angewiesen, dass Unternehmen und Menschen weiter erheblich Gas einsparen. Wir müssen also etwa die Heizungen runterdrehen und Gas in der Industrie ersetzen.
Besteht nicht die Gefahr, dass Menschen die Heizungen höher drehen, nachdem sie wissen, dass der Staat sie entlastet?
Grimm: Die Entlastung ist so konzipiert, dass sich Gassparen enorm lohnt. Für jede Kilowattstunde, die Sie nicht verbrauchen, sparen Sie den hohen aktuellen Gaspreis. Denn die Entlastung wird Ihnen gezahlt, egal wie viel Gas Sie verbrauchen. Man wird also entlastet und profitiert, wenn man noch zusätzlich spart.
Sie wünschen sich, dass die Atomkraftwerke fünf Jahre länger laufen. Dabei haben Sie einst gegen das Atomkraftwerk in Brokdorf demonstriert.
Grimm: In dieser massiven Energiekrise sollten wir pragmatisch sein und die Atomkraftwerke noch eine Zeit am Netz lassen. Aber das muss Teil einer Gesamtstrategie sein. Auch die Kohlekraftwerke müssen weiterlaufen. Vor allem gilt es aber, die erneuerbaren Energien so schnell wie möglich auszubauen. All diese Herausforderungen müssen wir ohne Scheuklappen meistern.
Also mit deutlich länger laufenden Atomkraftwerken.
Grimm: Wir brauchen die Atomkraft jetzt. Das darf aber nicht davon ablenken, die erneuerbaren Energien und vor allem auch die Infrastrukturen für den Energietransport auszubauen. Denn wenn das nicht gelingt, wird die Energiekrise länger dauern, als uns lieb ist. Darüber hinaus müssen wir aus der Energiekrise lernen und auch andere Abhängigkeiten konsequent reduzieren. So drängen wir als Sachverständigenrat Wirtschaft im aktuellen Gutachten darauf, unsere Bezugsquellen zu diversifizieren. Es ist richtig, dass der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister in verschiedene Staaten weltweit reisen, um über den Bezug von Energie, aber auch Rohstoffen, zu verhandeln.
Was Rohstoffe und andere Vorprodukte betrifft, hat sich Deutschland in hohem Maße von China abhängig gemacht.
Grimm: Diese Abhängigkeit von China ist eine große Herausforderung. China hat in den vergangenen Jahrzehnten durch die Integration von Wertschöpfungsketten und gezielten Subventionen die Preise auf dem Weltmarkt niedrig gehalten. Das hat die Exploration und Förderung von Rohstoffen vielerorts unwirtschaftlich gemacht. Hier gibt es Handlungsbedarf in Deutschland und Europa. Wir müssen diversifizieren und neue, auch eigene, Quellen erschließen.
Was heißt das konkret?
Grimm: Kritische Rohstoffe sind besonders auf unserem Weg hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft wichtig. Ohne sie können wir die meisten Anlagen nicht bauen. Solange viele dieser Rohstoffe aus China kommen, könnte unser Klimaschutz-pfad jäh eingebremst werden, wenn wir aus China – wie es jetzt beim russischen Gas passiert ist – weniger oder nichts geliefert bekommen.
War es insofern falsch, dass Kanzler Olaf Scholz die Beteiligung der Chinesen an einem Terminal des Hamburger Hafens durchgedrückt hat?
Grimm: Diese Entscheidung ist fragwürdig. Man sollte China nicht an Infrastrukturen in Deutschland beteiligen. Wenn das um sich greift, kann es Entscheidungsspielräume einschränken. Wir sind in Europa hier in einem Gefangenen-dilemma: Die anderen Länder gehen diese Abhängigkeiten ein – und China kann einfach drohen, dann andere Häfen zu favorisieren, wenn wir nicht mitspielen. Wir spielen uns hier in Europa gegeneinander aus – und China freut es. Wir setzen uns aber einem erheblichen Risiko aus, wenn einmal Konflikte mit China auftreten.
Wenn China Taiwan überfallen würde.
Grimm: Zum Beispiel. Wir müssen schon jetzt dafür sorgen, dass in einem solchen Fall unsere Transformationspläne zur erneuerbaren Energie nicht in Gefahr geraten. Stand jetzt sind wir auf die Lieferung wichtiger Rohstoffe aus China angewiesen. Wir müssen in Deutschland die Bezugsquellen besser diversifizieren. Die Abhängigkeit von China macht Deutschland erpressbar.
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