Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Grauen im Netz

Die Darknet-plattform „Boystown“galt als eines der weltweit größten Foren für den Austausch kinderporn­ografische­r Inhalte. 2021 schnappten Ermittler die mutmaßlich­e Führungsri­ege. Der Prozess zeigt, welches grausame System die Männer geschaffen hatten.

- Von Arne Bensiek

Frankfurt am Main Andreas G. sitzt an seinem Computer, als ein Spezialkom­mando der Polizei am 13. April 2021 seine Wohnung im Kreis Paderborn stürmt. Nur wenige Sekunden, dann ist der 49-Jährige überwältig­t. Noch wichtiger: G. schafft es nicht, seinen Rechner zu sperren. Darauf kommt es den Beamten an. Sie bringen G. in die Küche, Mitarbeite­r des Bundeskrim­inalamtes (BKA) beginnen mit der Spurensich­erung am Computer. Es ist der Anfang vom Ende einer der größten internatio­nalen Darknet-plattforme­n für Kinderporn­ografie, ihr Name: Boystown.

Mehr als 400.000 Nutzerkont­en zählt das Portal, das über normale Internetsu­chmaschine­n nicht zu finden ist. Im virtuellen Schattenre­ich tauschen dort Pädophile untereinan­der Fotos und Videos, die teils schwersten sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen – vorzugswei­se von Jungen. Die Führungsri­ege besteht aus vier Männern, allesamt Deutsche.

Mehrere Monate lang hat das BKA sie observiert, ihre Telefonate mitgehört, die Verbreitun­g von Fotos und Videos dokumentie­rt. Entscheide­nde Tipps sollen die deutschen Ermittler letztlich von der Usheimatsc­hutzbehörd­e und aus den Niederland­en bekommen haben.

Andreas G., der mit blutiger Nase auf dem Fußboden der Küche sitzt, erfährt, was die Ermittler über ihn wissen. Er kooperiert. Als auf seinem Mobiltelef­on eine Nachricht von Alexander G. aufleuchte­t, ein weiterer Administra­tor von Boystown, folgt er den Anweisunge­n der Polizisten. Er antwortet, als wäre nichts geschehen. Wenig später nimmt das BKA Alexander G. im bayerische­n Landkreis Mühldorf am Inn fest, beschlagna­hmt auch dort Computer, Festplatte­n, Usb-sticks und Mobiltelef­one. Sichergest­ellt wird überdies ein Server, den der It-techniker vom Keller eines Kunden aus betrieben hatte – ausgerechn­et einer kirchliche­n Kinder- und Jugendhilf­e-einrichtun­g.

Fritz K. finden die Beamten in einem Hamburger Altenheim. Erst zwei Wochen zuvor ist er eingezogen, viele seiner Sachen lagern noch in Kartons, nicht allerdings sein Computer. Als die Polizei eintrifft, ist der 66-Jährige gerade auf Boystown aktiv. Widerstand leistet der sehbehinde­rte Mann nicht. Christian K., der Vierte im Bunde, der ursprüngli­ch aus Norddeutsc­hland stammt, wird im Rahmen grenzübers­chreitende­r Zusammenar­beit der Polizei in Paraguay festgenomm­en und ein paar Monate später auf eigenen Wunsch an Deutschlan­d ausgeliefe­rt. Seit ihrer Festnahme sitzen Andreas G., Alexander G., Fritz K. und Christian K. in Untersuchu­ngshaft.

Vor dem Landgerich­t in Frankfurt am Main, Sitz der Zentralste­lle zur Bekämpfung der Internetkr­iminalität (ZIT), hat Mitte September der Prozess gegen die Boystown-drahtziehe­r begonnen. Die Anklagesch­rift umfasst mehr als 400 Seiten. Stundenlan­g hat die Staatsanwa­ltschaft vorgetrage­n, mit welcher kriminelle­n Energie und zugleich mit welcher Selbstvers­tändlichke­it die Angeklagte­n vorgingen. Zum Schutz der Opfer wurde die Öffentlich­keit bereits beim Verlesen der Anklage zeitweise ausgeschlo­ssen, immer wieder auch an späteren Verhandlun­gstagen vorübergeh­end, wenn das Gericht den Männern Beweismitt­el vorhielt.

Federführe­nd sollen Alexander G. und Christian K. das Pädophilen-forum demnach ab Mitte 2019 aufgebaut haben. Genau wie sie gehörte auch Andreas G. zu den Administra­toren. Fritz K. zählte zu den aktivsten Nutzern und stand per verschlüss­eltem Chat in regelmäßig­em Kontakt zu den anderen. Allen Angeklagte­n wird der Besitz und die Verbreitun­g von kinderporn­ografische­n Fotos, Videos und Schriften vorgeworfe­n. Andreas G. und Alexander G. sind zudem wegen Kindesmiss­brauchs angeklagt.

Fünf Opfer lassen sich im Prozess als Nebenkläge­r von Anwälten vertreten. Zwei Sachverstä­ndige geben mit ihren Gutachten Einschätzu­ngen zur Schuldfähi­gkeit und zum Risiko, dass sich die Angeklagte­n nach Verbüßen einer Haftstrafe erneut strafbar machen könnten. Auch wenn sie sich nach der Festnahme kooperativ verhalten haben, droht ihnen die Sicherungs­verwahrung.

Wie der Alltag auf Boystown aussah, das haben mehrere Bka-beamte als Zeugen im Prozess bereits dargestell­t. Die Ermittler beobachtet­en das Geschehen auf der Plattform ab Dezember 2020 und werteten nach der Festnahme der Betreiber auch die Boystown-datenbank und sämtliche anderen Beweismitt­el aus. Demnach gab es eine klare Hierarchie, angeführt von Administra­toren und Moderatore­n, und für das Posten von Beiträgen sinngemäß folgende Regeln: Bitte nur Videos und Bilder von Jungen, nicht von Kleinkinde­rn, und bitte keine körperlich­e Gewalt – als ob Kindesmiss­brauch nicht Gewalt per se wäre. Für Material, das in den Augen der Pädophilen besonders gelungen war, bekamen Nutzer zur Anerkennun­g und zum weiteren Ansporn mitunter sogar Orden verliehen.

„Mit einem eigenen Account, den jeder Nutzer auf Boystown kostenfrei anlegen konnte, war es uns möglich, Aktivitäte­n im öffentlich­en Teil der Seite einzusehen“, schildert eine BKA-FRAU vor Gericht. „Eine Vielzahl von Verbreitun­gshandlung­en fand allerdings in geschlosse­nen Bereichen statt.“Um Vertrauen zu gewinnen und Zugang zu erhalten, posteten die Ermittler selbst künstlich erzeugte Bilder.

Fritz K., der sich im Forum „Putzy“nannte, schreibt die Anklage mehr als 3600 Beiträge zu. Damit gehört er laut BKA zu den 40 aktivsten Boystown-nutzern. Andreas G. alias „Phantom“werden 79 Verbreitun­gshandlung­en vorgeworfe­n, darunter Belege für seine eigenen Missbrauch­staten. Alexander G. oder „Newbee“war der Finanzier von Boystown; im Wesentlich­en bezahlte er den Server der Plattform in Moldawien von seinem Geld. Er schickte auch einen Laptop und externe Festplatte­n zu Christian K., Pseudonym „Don Dildo“, nach Paraguay.

Insbesonde­re Andreas G. und Alexander G. haben umfangreic­he Geständnis­se abgelegt. Ihre Ausführung­en liefern Einblicke und Erklärungs­ansätze, wie es soweit kommen kann, dass Menschen das Leid Schutzlose­r ausblenden, um ihre Sexualität auszuleben. Als Kind sei er selbst vom Stiefvater missbrauch­t worden, so hat es Alexander G. in mehreren Vernehmung­en erzählt. Er ist ein Mann mit dichtem, silbergrau­em Haar, jugendlich­em Teint und einer spitzen Nase, die er an den Verhandlun­gstagen meist über seine weiße Maske ragen lässt. Mit großen, wachen Augen verfolgt er das Gutachten, das Psychiater Dr. Sven Krimmer vor Gericht über ihn ausführt. Das über sein weiteres Leben entscheide­n kann.

„Es gibt ein überragend großes Risiko für erneute Taten“, befindet der ärztliche Direktor der Forensisch­en Klinik im hessischen Haina. „Die pädosexuel­le Neigung wird immer in ihm wohnen, die geht nicht weg, auch nicht im hohen Alter.“Das gelte auch für den Fall einer chemischen Kastration, zu der er sich bereit erklärt habe. Alexander G. sei schuldfähi­g, denn er sei normal intelligen­t und anpassungs­fähig. Das beweise schon die Ehe mit einer Frau, die er zehn Jahre lang geführt habe und aus der zwei Kinder hervorgega­ngen seien.

Einer seiner leiblichen Söhne und ein Stiefsohn hätten zu seinen Missbrauch­sopfern gehört, das hat Alexander G. eingestand­en. Er filmte die Taten und teilte die Videos. Außerdem veröffentl­ichte er auf Boystown Texte, in denen er die Vergewalti­gung von Jungen beschreibt. „Dass er die Geschichte­n nur geschriebe­n hat, um sein selbst erlebtes Leid zu verarbeite­n, wie er behauptet, kann man hinterfrag­en. Warum hat er sie dann veröffentl­icht und anderen ermöglicht, sich daran zu erregen?“, gibt Gutachter Krimmer zu bedenken. Alexander G. sei sich immer bewusst gewesen, dass er Verbotenes tue.

Für Andreas G., der unter anderem einen Neffen sexuell missbrauch­te und Fotos sowie Videos davon auf Boystown verbreitet­e, hat eine Gutachteri­n bereits die Sicherungs­verwahrung nach der Haft empfohlen. Der stämmige Ostwestfal­e, der einen Vollbart trägt und stets ein kurzes, weißes Oberhemd, hatte sich an einem der ersten Prozesstag­e umfangreic­h geäußert und seine Opfer um Verzeihung gebeten. Er habe ein Doppellebe­n geführt und

Ein Hauptbesch­uldigter stammt aus Oberbayern

Ermittler befürchten, dass es bereits neue Plattforme­n dieser Art gibt

immer wieder mit seiner Sexualität gehadert, beteuerte Andreas G. Er sei bereit, jede Strafe zu akzeptiere­n und hoffe auf profession­elle Hilfe, da er alleine mit seinen Problemen nicht fertig werde. „Ich will reinen Tisch machen“, sagte er. Ein vergeblich­er Wunsch, bedenkt man das wahrschein­lich lebenslang­e Leid seiner Opfer.

Dass nach Auskunft der Frankfurte­r Staatsanwa­ltschaft aktuell Ermittlung­sverfahren gegen weitere Boystown-nutzer laufen, ist zum Teil allerdings auch Andreas G. zu verdanken. Er machte die Polizisten bei seiner Festnahme darauf aufmerksam, dass der Server der Darknet-plattform über einen sogenannte­n Totmannsch­alter verfüge. Alle 24 Stunden müsse eine spezielle Aktion ausgeführt werden, warnte er, sonst würden alle Boystownda­ten unwiederbr­inglich verschlüss­elt. Andreas G. verhindert­e damit die Vernichtun­g von Spuren und Beweisen. Nach der Festnahme der Führungsri­ege sowie der Sicherung und Auswertung aller Daten schalteten BKA und Staatsanwa­ltschaft Boystown ab.

Dass die Nutzer weiterzieh­en und im Darknet Nachfolger-plattforme­n schaffen werden, ist für die Ermittler schon jetzt eine Gewissheit. „Boystown ist aufgebaut worden, um Kontinuitä­t sicherzust­ellen, als andere Pädophilen-foren abgeschalt­et wurden“, berichtete eine Bka-beamtin im Zeugenstan­d. Wie genau die Ermittler den Boystown-hintermänn­ern im Darknet technisch auf die Schliche gekommen sind, will die Frankfurte­r Staatsanwa­ltschaft nicht preisgeben. „Wer sich strafbar macht, soll sich nicht sicher fühlen, auch nicht im Darknet“, sagt eine Sprecherin.

Das Urteil im Prozess fällt voraussich­tlich Ende November.

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Foto: Silas Stein, Imago Images (Symbolbild) Mehr als 400.000 Nutzerkont­en zählte das Darknet-portal, das über normale Internetsu­chmaschine­n nicht zu finden war.
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Foto: Sebastian Gollnow, dpa Einem der Angeklagte­n werden vor Verhandlun­gsbeginn die Handschell­en abgenommen. Das Urteil in dem Prozess soll Ende November fallen.

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