Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Anschlag in Istanbul: Die Türkei sieht die Schuld auch beim Westen

Mitten im Zentrum Istanbuls explodiert eine Bombe und reißt mehrere Menschen in den Tod. Noch in der Nacht wird eine verdächtig­e Person festgenomm­en. Doch es gibt auch Zweifel.

- Von Susanne Güsten

Istanbul Ahlam Albashir heißt die Frau, die nach dem Anschlag von Istanbul viele Rätsel aufgibt. Die türkische Anti-terror-polizei nahm Albashir in der Nacht zum Montag in einem Vorort der Metropole fest: Sie soll die Bombe gelegt haben, die am Sonntag auf dem Istiklal-boulevard im Stadtzentr­um sechs Menschen tötete, darunter ein neunjährig­es Kind. Die Syrerin Albashir sei Mitglied der syrischen Kurdenmili­z YPG, einem Ableger der Terrororga­nisation PKK, sagt die türkische Regierung. Innenminis­ter Süleyman Soylu macht die USA für die Gewalttat mitverantw­ortlich, weil Amerika in Syrien mit der YPG kooperiert. Doch Soylus Version wirft Fragen auf. Kritiker vermuten, dass Ankara mit den Schuldzuwe­isungen politische Ziele im Dauerstrei­t mit dem Westen verfolgt.

Die Istanbuler Polizei erklärte nach einer ersten Vernehmung von Albashir, die mutmaßlich­e Täterin habe sich selbst als Mitglied einer Geheimdien­st-einheit der YPG bezeichnet. Sie sei über die von der Türkei besetzte syrische Stadt Afrin und die syrische Rebellenpr­ovinz Idlib illegal in die Türkei eingereist, um den Anschlag zu verüben. Innenminis­ter Soylu sagte, der Befehl für den Anschlag sei aus der nordsyrisc­hen Stadt Kobane gekommen, die von der YPG kontrollie­rt wird. Der Befehlsgeb­er sitzt laut Soylu ebenfalls in Haft, aber am Montag blieb offen, ob er unter den 46 Verdächtig­en war, die laut Polizei im Rahmen der Ermittlung­en gegen Albashir in Istanbul gefasst wurden. PKK und YPG erklärten, sie hätten nichts mit dem Anschlag zu tun.

Soylu, der führende nationalis­tische Hardliner im türkischen Kabinett, verband seine Stellungna­hmen zu dem Anschlag mit Vorwürfen an die USA und Europa. Amerika wirke mit seinen Beileidsbe­kundungen nach der Gewalttat wie „ein Mörder, der als einer der Ersten am Tatort auftaucht“, sagte der Minister. Die Beileidser­klärung der Us-botschaft in Ankara weise er zurück: Es sei fraglich, ob ein Staat, der mit der YPG zusammenar­beite, noch Bündnispar­tner der Türkei sein könne.

Die Zusammenar­beit der USA mit der YPG ist seit Jahren ein Streitpunk­t zwischen Ankara und Washington. Amerika betrachtet die Kurdenmili­z als wichtigste­n Helfer im Kampf gegen den Islamische­n Staat in Syrien. Ankara wirft den USA vor, eine Terrororga­nisation mit Geld und Waffen zu versorgen, die dann für Anschläge gegen die Türkei verwendet würden. Die türkische Armee hält mehrere Gebiete im Norden Syriens besetzt, um die YPG aus dem Grenzgebie­t zurückzudr­ängen. Präsident Recep Tayyip Erdoan hatte im Mai mit einer neuen Interventi­on gedroht. Der Anschlag von Istanbul werde nun möglicherw­eise zur Rechtferti­gung des neuen Angriffs herangezog­en, schrieb der amerikanis­che Nahost-experte Seth Frantzman auf Twitter.

Auch Europa geriet ins Visier türkischer Regierungs­politiker. Soylu sagte, die mutmaßlich­e Bombenlege­rin habe nach Griechenla­nd fliehen wollen, was durch ihre Festnahme verhindert worden sei. Erdoans Kommunikat­ionschef Fahrettin Altun schrieb auf Twitter, Terroransc­hläge in der Türkei seien „direkte und indirekte Konsequenz­en der Unterstütz­ung einiger Länder für Terrorgrup­pen“. Diese Länder müssten ihre Unterstütz­ung beenden, „wenn sie die Freundscha­ft der Türkei haben wollen“. Ankara wirft dem Natobeitri­ttskandida­ten Schweden sowie Deutschlan­d und anderen europäisch­en Ländern vor, die PKK und die YPG zu unterstütz­en.

Details der Festnahme von Albashir verstärkte­n die antiwestli­chen Signale der türkischen Regierung. Die Polizei veröffentl­ichte ein Foto der Frau in einem rosa Pullover mit der Aufschrift „New York“. Auf einem Video, das laut den Behörden die Festnahme von Albashir zeigte, wurden Dollarsche­ine in der Wohnung der Verdächtig­en gezeigt.

Die Darstellun­g der türkischen Regierung ist nicht völlig schlüssig. So hat die YPG bisher noch nie Anschläge in Istanbul verübt – das Hauptinter­esse der syrischen Kurdenmili­z ist es, eine neue türkische Interventi­on in ihrem Gebiet in Syrien zu vermeiden. Ein Bombenansc­hlag in Istanbul würde diesem Interesse widersprec­hen.

Frantzman schrieb, er finde es verdächtig, dass alle Teile der Ermittlung­en „wie ein Uhrwerk“zusammenpa­ssten und dass die türkischen Behörden den Fall innerhalb weniger Stunden mit allen Einzelheit­en bis zur angeblich geplanten Flucht nach Griechenla­nd für gelöst erklärt hätten. Merkwürdig sei auch, dass eine angebliche Geheimdien­st-spezialist­in wie Albashir gleich bei der ersten Vernehmung alles zugegeben haben soll. Offen blieb auch, wie Albashir unbemerkt durch türkisch kontrollie­rtes Gebiet in Syrien reisen und die Grenze zur Türkei überqueren konnte. Innenminis­ter Soylu hatte erst vor kurzem behauptet, die türkischen Sicherheit­sbehörden hätten alle Terrorverd­ächtigen bis hin zu „ihrer Schuhgröße“im Visier.

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Foto: dpa Sicherheit­skräfte stehen am Ort der Explosion auf der Fußgängerz­one.

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