Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Erst auszeichnen, dann abschieben?
Er stellte sich dem Würzburger Messerangreifer entgegen und rettete damit Menschenleben. Für sein mutiges Eingreifen wurde Chia Rabiei mehrfach ausgezeichnet. Doch wie steht es um sein Asylverfahren?
Würzburg Wieder greift Chia Rabiei seinen Rucksack, wieder stellt er sich dem Mann mit dem Messer entgegen, der auf ahnungslose Passanten einsticht und auch auf ihn losgeht. Der 43-Jährige hat diese Szenen schon einmal erlebt, als er sich am 25. Juni 2021 auf dem Barbarossaplatz in Würzburg dem psychisch kranken Messerangreifer Abdirahman J. entgegenstellte. Für Dreharbeiten schlüpfte er jetzt in die Rolle, die er gut kennt: Er spielt sich selbst, für einen Film über couragierte Mitbürgerinnen und Mitbürger.
An jenem Abend des 25. Juni 2021 stach ein damals wohl 31-jähriger Somalier in der Innenstadt von Würzburg scheinbar wahllos mit einem Küchenmesser um sich. Drei Frauen wurden getötet. Weitere Menschen, darunter ein elfjähriges Mädchen, wurden schwer verletzt. Als einer der ersten Passanten ergriff Rabiei die Initiative, wollte helfen, und verhinderte möglicherweise weitere Morde. Er hielt den Täter bis zum Eingreifen der Polizei in Schach.
Andere Passanten filmten das, die kurze Sequenz wurde tausendfach im Internet angeschaut und verbreitet. Dies und die Berichte über seine Zeugenaussage im Prozess machten sein Gesicht bekannt. 19 Monate später wird der sportliche Mann mit dem freundlichen Lächeln noch immer in Würzburg auf der Straße erkannt. Wildfremde Menschen klopfen ihm auf die Schulter, wollen ihm zum Dank die Hand drücken.
Einer begnügte sich nicht damit. Karl Erhard sagt: „Mit Schulterklopfen ist es nicht getan bei so einem mutigen Verhalten. Ich weiß nicht, ob ich mich das in einer vergleichbaren Situation getraut hätte.“Er kann das einschätzen, der pensionierte Erste Kriminalhauptkommissar hat mit seinen Kollegen manchen Mörder auf andere Art gestellt. Er war Ermittler bei der Würzburger Kriminalpolizei. Erhard schrieb einen Brief an die Redaktion von „Aktenzeichen XY... ungelöst“. Darin schlug er den Kurden für einen der Preise für couragierte Mitbürger vor, mit denen das Zdf-magazin jedes Jahr mutige Menschen auszeichnet. „Wenn es einer verdient hat, dann Rabiei“, sagt Erhard.
Der „Aktenzeichen Xy“-redaktion gefiel der Vorschlag. Sie nahm den Würzburger aus einer Fülle von Vorschlägen in den Kreis ihrer Kandidatinnen und Kandidaten auf, von denen je einer in den monatlichen Sendungen mit seiner Tat in einem Film vorgestellt wird. Dafür opferte Rabiei, der in Würzburg inzwischen eine Arbeit und eine eigene Wohnung gefunden hat, seine knappe Freizeit. Die Dreharbeiten für den Vorstellungsfilm fanden Mitte Oktober in Erding bei München statt. „Ich habe mich gefühlt wie ein Schauspieler, wie in einem Traum“, erzählt er von den Dreharbeiten. Dem Regisseur habe er manchmal widersprochen und gesagt: „Es war anders, wir müssen das so machen.“Er erinnert sich noch gut an die Tat. Lange Zeit plagten ihn Albträume. Nach außen wirkt er ruhig und selbstbewusst.
Abseits der Filmkulissen ist Rabiei kein Hauptdarsteller. Der Asylbewerber aus dem Iran ist auch nicht der einzige, der an jenem Abend Mut zeigte: Eine Angestellte bei Woolworth warf sich schützend über ein elfjähriges Mädchen, dessen Mutter gerade getötet worden war – und wurde selbst von Messerstichen getroffen. Ein Kaufhausdetektiv warf in hilfloser Verzweiflung mit Gläsern nach dem Täter. Und zwei Soldaten trieben zusammen mit Rabiei und anderen Passanten den Messerstecher schließlich in die Enge, bis die Polizei kam.
Natürlich freue er sich über die Nominierung, sagt Rabiei. Aber allzu oft werde er wegen seines Einschreitens als „Held“bezeichnet. Das gefalle ihm nicht, sagt er. „Eine Heldin war die Frau, die sich vor die eigene Tochter stellte.“Die Mutter wurde ermordet.
Mit Auszeichnungen kennt sich Rabiei inzwischen aus. Ministerpräsident Markus Söder verlieh ihm die Bayerische Rettungsmedaille. In Würzburg erhielt er die Ehrenmedaille des Oberbürgermeisters von Christian Schuchardt. Und auch seine kurdisch geprägte Heimatstadt Mahabad im Nordwesten des Irans hat von seiner Courage erfahren und zollte ihm mit der Ehrenmedaille „für besonders mutige Bürger“ihren Respekt.
Chia Rabiei hat den Iran 2019 verlassen, weil er der unterdrückten Volksgruppe der Kurden angehört. In Deutschland hat er Asyl beantragt. Anfangs durfte er hier nicht arbeiten, was ihn belastet habe, erzählt Rabiei. „Ich kann nicht ohne Arbeit“, sagt er. Von Kindesbeinen an habe er in der Metzgerei des Großvaters mitgeholfen. Nach Schule und Wehrdienst arbeitete er zwölf Jahre im Supermarkt seines Vaters. Im Iran arbeitete er zuletzt als Taxifahrer. In Deutschland sammelte er zunächst Pfandflaschen – um etwas zu tun zu haben. Heute arbeitet er als Küchenhilfe im Juliusspital Weinstuben. Fränkische Bratwürste, Sülze, Maishähnchenbrust. Seit über einem Jahr ist er dort angestellt. Auch an seinen Deutschkenntnissen arbeitet er. „Es ist gut, aber noch nicht gut genug“, sagt er über sein Deutsch. Formell beträgt sein Sprachniveau B1. Das befähigt dem Goethe-institut zufolge Menschen dazu, sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen äußern zu können. Über Erfahrungen und Ereignisse berichten und Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben zu können.
Träume, Hoffnungen und Ziele hat Chia Rabiei. Er möchte deutscher Staatsbürger werden. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge versetzt ihm einen jähen Dämpfer: „Negativ“steht auf seinem Bescheid der Behörde. Der Asylbewerber sei zu einem Zeitpunkt eingereist, zu dem die politische Lage im Iran noch stabil gewesen sei. Gegen eine ablehnende Entscheidung hat sein Anwalt Roj Khalaf eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Würzburg erhoben. Eine Entscheidung steht noch aus. „Aber es kann doch nicht sein, dass ein Mann mit so einem mustergültigen Verhalten nicht hierbleiben und Deutscher werden darf“, sagt der pensionierte Mordermittler Karl Erhard. „Es wäre ja peinlich, wenn man den ins Flugzeug steckt und abschiebt – womöglich mit der bayerischen Rettungsmedaille um den Hals.“
Die Abschiebung drohe zwar seinem Mandanten aktuell nicht, erklärt sein Anwalt. Wer zeigen kann, dass er gut integriert ist, darf sich auch weiterhin in Deutschland aufhalten. Roj Khalaf ist Strafrechtler und vertrat Chia Rabiei als Nebenkläger im Prozess um die Messerattacke. Er gibt mit Blick auf das Asylverfahren zu bedenken, dass Rabiei gegen einen muslimischen Mann angekämpft hat. Aus Notwehr natürlich, aber wie das in der islamischen Republik am Persischen Golf ausgelegt wird, wisse niemand.
In Würzburg kennt man Chia Rabiei, den Mann mit dem Rucksack. Er trägt ihn auch heute noch oft bei sich, wenn er durch die Innenstadt geht. Zielstrebigen Schrittes, mit wachsamem Blick. Er sieht eine Frau mit Rollator. Sie müht sich sichtlich mit ihrem Gehwagen ab, der einfach nicht durch den Hausflur passen will. Rabiei hilft. „Nicht für Medaillen, nicht für Geld und nicht für den deutschen Pass“, sagt er. „Für mein Herz.“
Tv-tipp: Der Film mit Chai Rabiei wird voraussichtlich in der Sendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“am 7. Dezember um 20.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt.
Er will nicht als Held bezeichnet werden