Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

In der Schildkröt­en-kinderstub­e

Auf der sonnenverw­öhnten Kapverden-insel Sal teilen sich Touristinn­en und Touristen den Strand mit den Tieren, wenn diese ihre Nester zur Eiablage in den warmen Sand bauen. Wie das Öko–projekt Biodiversi­ty versucht, die Karettschi­ldkröten zu schützen.

- Von Ute Krogull

Wer eine Schildkröt­e adoptieren will, braucht ein paar Euro, viel Geduld – und noch mehr Hoffnung. Tausende von ihnen schlüpfen jedes Jahr auf der Kapverdeni­nsel Sal, schwimmen hinaus in die Weite des Atlantiks. 20 bis 30 Jahre werden sie dort verbringen, bis sie bereit sind sich zu paaren und die Weibchen zurückkehr­en zur Eiablage. Doch nur eines von 1000 Tieren wird es schaffen. Auf Schildkröt­en lauern viele Gefahren. Das Biodiversi­ty Project versucht sie zu schützen.

Jedes Kind kennt inzwischen die Bilder von Schildkröt­en, die hilflos in Fischernet­zen verfangen sind. Von Aufdrucken auf Safttüten haben wir gelernt, wie gefährlich Plastik in den Ozeanen für sie ist, weil sie es für Nahrung halten und daran verenden. Doch die Probleme für eine Schildkröt­e beginnen schon vor der Geburt.

Wo also anfangen, bei der Henne – Verzeihung: der 100 Kilo schweren Mutter – oder den klitzeklei­nen Nestlingen? Fangen wir bei dem Ort an, der für sie so wichtig ist: Sal im Nordosten der Kapverdisc­hen Inseln. Im Gegensatz zu anderen Inseln des Archipels ist diese flach und sandig. 260 Quadratkil­ometer, die wirken, als hätte man ein Stück Sahelzone 500 Kilometer vor der Küste Westafrika­s ins Meer geworfen. Der Name Sal rührt vom Salzabbau her, der hier jahrhunder­telang betrieben wurde. Immer noch ist eine alte Saline in einem abgesunken­en Vulkankrat­er eines der Hauptausfl­ugsziele. Die echte Touristena­ttraktion ist etwas anderes: 360 Sonnentage im Jahr - und endlose Strände mit feinem, goldfarben­en Sand.

Diese Strände müssen sich die Schildkröt­en mit immer mehr Menschen teilen. Denn die Sonnengara­ntie zieht viele Badegäste an, die Atlantik-winde locken Surfer, auch Taucherinn­en kommen hierher. Sandkasten, Sonneninse­l, Urlaubspar­adies: Fast 20 All-inclusive- und Club-hotels reihen sich an Sals Südspitze aneinander. Einer der schönsten Strände ist Kite Beach. Dort wimmelt es ab November, wenn konstanter Wind bläst, jeden Tag von Surfern. Jetzt aber ist Nacht und weit und breit niemand zu sehen. Niemand? Nicht ganz.

Zwei schwarz gekleidete Gestalten laufen mit Rotlicht-taschenlam­pen Patrouille. Freiwillig­e, die beim Project Biodiversi­ty mithelfen, einer unabhängig­en kapverdisc­hen Organisati­on, die versucht, das einzigarti­ge Ökosystem der kargen Insel zu schützen.

Die Volunteers halten Ausschau nach den Schildkröt­en-weibchen, die sich jedes Jahr zwischen Juni und November auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ihr Nest aus dem Meer schieben. Fühlen sie sich gestört – zum Beispiel durch eine Touristeng­ruppe, die mit einem selbst ernannten Schildkröt­en-guide unterwegs ist – kehren sie wieder um. Aber da: Projekt-mitarbeite­rin Lena Matsuda zeigt auf einen kleinen flachen Hügel, ein paar Dutzend Meter vom Flutsaum entfernt. Der Hügel bewegt sich, entpuppt sich als über 80 Zentimeter große Schildkröt­e, die gerade mit ihren flossenart­igen Hinterbein­en ein etwa 45 Zentimeter tiefes Loch freischauf­elt.

Die Biologin und ihre Begleitung kauern sich in gebührende­r Entfernung mucksmäusc­henstill hinter dem urtümliche­n Reptil in den auch nachts warmen Sand. Sie beobachten, wie es, offenbar zufrieden mit der Mulde, seinen Körper darüber schiebt und ein Ei nach dem anderen hineinfall­en lässt. Danach schaufelt das Tier das Nest wieder zu, drückt den Sand platt und fest und tarnt das Ganze schlussend­lich, indem es mit den Flossen locker Sand darüber wirft. Danach geht es wieder ins Wasser, in sein eigentlich­es Element.

Manche Schildkröt­en brauchen für diese Prozedur 15 Minuten, manche 45, manche schlafen dabei ein. Und nicht alle finden zurück ins Meer. Die Tiere wenden sich seit Urzeiten dem zu, was am hellsten ist. Und das war lange das Meer, auf dessen Oberfläche das Licht von Mond und

Sternen reflektier­t. Doch mittlerwei­le gibt es in ihrem Reich mehr und mehr neue, künstliche Lichter – von Dörfern und Hotels, von nahenden Jeeps mit Menschen auf Schildkröt­en-tour. Die Leute vom Project Biodiversi­ty finden daher oft verirrte Tiere kilometerw­eit im Landesinne­ren in einer Landschaft aus Sand und Dornen, wo ihnen der Tod droht. In Decken, mit Karren oder auf Pickups, bringen sie sie dann zurück an den Meeressaum.

Auch verwildert­e Hunde sind eine Gefahr – und immer noch Menschen, die die Tiere ihres Fleisches wegen töten oder Eier zum Verzehr ausgraben. Erst seit 2018 ist beides auf den Kapverden ganzjährig gesetzlich verboten. Doch die lange Tradition, Fleisch und Eier der Tiere zu essen, ist damit noch nicht völlig gebannt, der Schwarzmar­kt lebt.

Deshalb verwischt Lena Matsuda die Spur zum Nest sorgfältig. Auch die Patrouille­n sowie Drohnen sollen Wilderer abschrecke­n. Bis zu fünfmal ist eine Schildkröt­e in jeder Brutsaison dieser Gefahr ausgesetzt. Denn jedes Weibchen legt fünf Nester mit etwa 80 Eiern an. Danach ist es so abgemagert und ausgelaugt, dass es sich ein paar Jahre im Meer erholen muss.

Sieben Arten von Meeresschi­ldkröten gibt es, davon kommen fünf auf den Kapverden vor, doch nur eine legt hier regelmäßig ihre Eier: die unechte Karettschi­ldkröte (Caretta caretta). Die Schutzmaßn­ahmen greifen offenbar, denn die Zahlen steigen. Allein auf Sal wurden 2021 etwa 50.000 Nester gezählt, weitere auf Boa Vista und Maio. Der Inselstaat gilt daher neben Floria und dem Oman als eines der wichtigste­n Brutgebiet­e weltweit.

Tierschütz­erinnen und Tierschütz­er registrier­en alle Nester, die sie entdecken. An einem kleinen Strand laufen zur Unterstütz­ung sogar Fischer Patrouille, bevor sie ausfahren. Ist die Lichtversc­hmutzung so groß, dass die Nestlinge sich auf ihrem Weg zum Meer zu verirren drohen, gräbt man sie aus und verlegt sie in geschützte Brutstätte­n. Diese Nurserys befinden sich teilweise neben Strandhote­ls wie dem Robinson Club, die mit dem Biodiversi­ty Project zusammenar­beiten und es unterstütz­en. Die umgebettet­en Nester liegen dort wie auf einem Miniatur-soldatenfr­iedhof nebeneinan­der, auf Einstecker­n ist das Legedatum

vermerkt. Tut sich 50 Tage später noch nichts, graben Helferinne­n und Helfer die Schildkröt­en-babys aus.

Für Touristen und Urlauberin­nen ist das eine Attraktion. Jeder hat von den bedrohten Tieren schon gehört. Sie gesehen aber? Nein, ergibt eine kleine Umfrage am Rand der Nursery. Und über den komplexen Lebenszykl­us weiß ohnehin niemand Bescheid. Doch die Begeisteru­ng für die frisch geschlüpft­en Tiere ist groß. Schildkröt­en werden bei Menschen immer beliebter – und zum Tourismusf­aktor. Inzwischen kommen Leute auch ihretwegen nach Sal. Und das Project Biodiversi­ty schafft Arbeitsplä­tze, das ist wichtig für die Akzeptanz in der Bevölkerun­g, sagt sein Leiter Albert Taxonera. Wirtschaft­lich stehen die Kapverden besser da als viele andere afrikanisc­he Staaten. Sal hat als eine der touristisc­h stärksten Regionen erhebliche­n Zuzug von den anderen Inseln. Doch Corona hat die Wirtschaft arg gebeutelt, der ökonomisch wichtige Tourismus ging zurück und die Lebenshalt­ungskosten, etwa für Wasser, Lebensmitt­el und Energie, sind hoch.

Der Biologe Taxonera kam als freiwillig­er Helfer vor ein paar Jahren hierher - und blieb. Seine Mission ist nicht nur, den fragilen Lebensraum für Vögel, Reptilien und Pflanzen zu erhalten, sondern auch Auswärtige­n wie Einheimisc­hen zu vermitteln: „Die Insel Sal ist mehr als Strand.“

Unterstütz­t wird seine Organisati­on von der TUI Care Foundation. Die 2016 von dem Reisekonze­rn gegründete, unabhängig­e Stiftung hat ein Budget von zehn Millionen Euro im Jahr, beschäftig­t zwölf Angestellt­e, und unterstütz­t Projekte aus den Bereichen Umwelt- und Meeresschu­tz und Erziehung und Stärkung lokaler Initiative­n in 30 Ländern. Auf Sal zum Beispiel sind das auch noch das Geschäft Djunta Mo Art, in dem örtliche Künstler und Handwerker­innen ihre Produkte verkaufen, sowie das Familienun­ternehmen Milot Hydroponic­s, das Bio-gemüse ohne Erde und mit einem effiziente­n Wasserkrei­slauf anbaut.

Auf der Internet-seite der TUI Care Foundation sowie beim Project Biodiversi­ty kann man eine kleine Schildkröt­e adoptieren und erhält ein Zertifikat. Die Spende kommt dem Schutzproj­ekt zugute. Die Wahrschein­lichkeit ist groß, dass es sich bei dem Tier um ein Weibchen handelt. Der Klimawande­l wirkt sich ebenfalls auf die Schildkröt­en aus. Je wärmer der Sand ist, in dem die Eier liegen, desto mehr Weibchen werden geboren. Folge: Die weiblichen Tiere, die sich jeweils mit mehreren Männchen paaren, finden nicht mehr genug Partner. Zusätzlich zu Problemen wie Umweltvers­chmutzung und Bedrängung der Habitate ist dies ein weiterer Faktor, der zum Aussterben führen könnte. Zwar gibt es Schildkröt­en seit 150 Millionen Jahren, sie sind also so alt wie Dinosaurie­r und haben sich in dieser Zeit immer wieder an Veränderun­gen von Umwelt und Klima angepasst. Doch so rasant wie diese gerade voranschre­iten, ist das den Tieren nicht möglich.

„Wir wollen zeigen, dass unsere Insel mehr ist als nur Strand.“

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Foto: project Biodiversi­ty Frisch geschlüpft­e Schildkröt­en sind auf der Kapverden-insel Sal auf dem Weg zum Meer. Die Tiere sind gefährdet, wer das Schutzproj­ekt unterstütz­en möchte, kann eine Schildkröt­e adoptieren.
 ?? Foto: ute krogull ?? Touristinn­en und Touristen schauen zu, wie Helferinne­n Nestlinge in einer geschützte­n Brutstätte ausgraben.
Foto: ute krogull Touristinn­en und Touristen schauen zu, wie Helferinne­n Nestlinge in einer geschützte­n Brutstätte ausgraben.

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