Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Als Kempten wegweisend war
Archäologen sind begeistert darüber, was die Grabungen in der Römerstadt Cambodunum über die Erschließung des nordalpinen Raums ab der Zeitenwende erzählen. Sie hoffen auf weitere Entdeckungen.
Kempten Seit vier Jahren gräbt Kempten wieder intensiv in seiner Geschichte. Jeden Sommer rücken Archäologen der Universität München an, um dem Areal oberhalb der Iller, wo einst die Römerstadt Cambodunum stand, historische Geheimnisse zu entlocken. In diesem Sommer legten sie die Grundmauern eines prächtigen Wohnhauses im einstigen Zentrum frei, gleich neben dem zentralen Forum gelegen. Und sind entzückt darüber, was da nach dem Wegräumen der Grasnarbe und der Humusschicht alles ans Tageslicht kam. Der damalige Besitzer hatte eine Therme und eine Fußboden-heizung in sein geräumiges Haus einbauen lassen. Auch der Estrich der Böden hat sich bemerkenswert gut erhalten. Die Ausgräber stießen auch auf ornamentale Wandmalereien. Antiker Luxus.
Die Stadt Kempten jubelt angesichts der Funde, und auch die Fachwelt blickt neugierig nach Kempten. „Wir haben einen wichtigen Teil der zentralen römischen Wohnbebauung von Cambodunum gut erhalten vorgefunden – ein süddeutschlandweit einzigartiger Befund“, sagt Maike Sieler, die Kemptener Stadtarchäologin.
Die Steinbauten sind zwar schon bei den ersten Ausgrabungen Endes 19. Jahrhunderts freigelegt worden, man wusste also von ihnen. Doch erst jetzt wird so richtig klar, was Archäologen schon lange ahnen: Die Verwaltungsund Handelsstadt Cambodunum an der Iller hatte für die Römer eine zentrale Bedeutung als zivile Siedlung im heutigen Südbayern. „Cambodunum-kempten ist das Paradebeispiel einer römischen Planstadt“, sagt Grabungsleiter Professor Salvatore Ortisi von der Ludwig-maximilians-universität München. „Hier lässt sich die Erschließung und Urbanisierung der Gebiete nördlich der Alpen durch Rom in hervorragender Weise nachvollziehen.“Ortisi geht sogar noch weiter: „Die keltisch-römischen Anfänge bilden die Wurzeln vieler unserer heutigen Städte und haben die kulturelle Entwicklung Süddeutschlands ganz entscheidend geprägt.“Cambodunum war wohl bis zum Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus die Hauptstadt der neuen römischen Provinz Rätien, bevor Augsburgs Ursprungsstadt Augusta vindelicum diese Funktion übernahm.
Im Jahr 15 vor der Zeitenwende drangen die Römer über die Alpen in das Land nördlich der Berge Richtung Donau vor. Der Heerführer Tiberius, ein Stiefsohn des Kaisers Augustus, eroberte vom Bodensee aus das Land von den Kelten und Rätern. Erst bauten die Eindringlinge aus dem Süden Brigantium auf, das heutige Bregenz. Dann stießen sie weiter Richtung Osten vor – quer durchs heutige Allgäu verlief die damalige Römerstraße. Lange vermutete man, dass sie Cambodunum am rechten Illerhochufer erst im zweiten Jahrzehnt anlegten.
Inzwischen hat die Kemptener Chef-archäologin Maike Sieler aber herausgefunden, dass schon zur Zeit von Christi Geburt die ersten Häuser gebaut wurden. Sie hatte dies durch die Analyse von Tonscherben eines Tafelgeschirrs errechnen können, die schon vor vielen Jahren aus dem Kemptener Boden gegraben, aber nie genau untersucht worden waren.
Anfangs bauten die Römer wohl Gebäude aus Holz. Und offenbar legten sie diese nordalpine Siedlung, wo die Hügel schon niedriger sind und die Iller mit Flößen befahrbar ist, planvoll nach dem Vorbild mediterraner Städte an. Immerhin hatten sie, auch das ist inzwischen klar, das Gelände für die neue Stadt planiert.
Bald aber muss ein Feuer die erste Siedlung – oder Teile davon – zerstört haben. Darauf deuten Brandreise und die jetzt gefundenen Steinmauern hin. Archäologe Ortisi schätzt, dass die Mauern im zweiten oder dritten Jahrzehnt nach der Zeitenwende hochgezogen wurden. „Sehr früh also“, sagt er. Im nächsten Sommer will er tiefer in die Erde hinabgraben lassen, um nach Resten der ersten Holzgebäude zu suchen und noch mehr Licht ins Dunkel der Anfänge von Cambodunum-kempten zu bringen. Die Forschungslage sei exzellent, betont der Archäologie-professor. „An wenigen Orten ist sie so ideal.“
Die Kooperation der Münchner Uni-archäologen mit der Stadt Kempten, die eigentlich nun zu Ende hätte sein sollen, geht also weiter. Vielleicht stoßen die Ausgrabenden dann doch noch auf das erste Forum der antiken Stadt. Bislang suchten sie vergebens danach. Kempten ist dabei ein Glücksfall für sie: Der Kernbereich der römischen Vergangenheit ist nicht durch moderne Bebauung zerstört worden, sondern als Bodendenkmal noch direkt unter der Grasnarbe erhalten.
Die heutige Stadt Kempten entstand ab dem frühen Mittelalter einige hundert Meter entfernt jenseits der Iller.
Parallel zu weiteren Ausgrabungen wird die Bauforscherin Anja Reschmeier ebenfalls von der Universität München, mithilfe von Computern das Wohnhaus digital rekonstruieren, dessen Mauern gerade freigelegt worden sind. Damit möchte sie ein genaueres Bild von Kemptens Ursprungsstadt erhalten. Ihre Arbeit könnte auch Grundlage für den Nachbau des Gebäudes sein. Denn die Stadt möchte künftig visualisieren, was nicht mehr steht. Sie hat das schon im Tempelbezirk getan, dem Herzstück ihres Archäologischen Parks (APC), in den die Ausgrabungsstätten, zu der zudem eine Therme gehört, eingebunden sind. In diesem Freilichtmuseum ließ die Stadt in den 1980er Jahren einen Hercules-tempel sowie andere Gebäude in Originalgröße nachbauen, um den jährlich Zehntausenden von Besuchern eine Ahnung davon zu vermitteln, wie die Römer vor 2000 Jahren in der Provinz Rätien lebten, beteten und badeten.
Weiterhin offen bleibt die alte Frage, ob Kempten die älteste deutsche Stadt ist. Köln und Trier entstanden fast zu selben Zeit, und es gibt laut Stadtarchäologin Maike Sieler Funde aus der Nähe von Trier, die auf eine dortige Siedlung schon vor Christi Geburt hindeuten. Köln und Trier wurden von römischen Truppen gegründet, die vom damaligen Gallien (heute Frankreich, Luxemburg, Belgien) aus ins germanische Land vorgestoßen waren. Den Titel der ersten schriftlich erwähnten Stadt hat Cambodunum freilich noch niemand nehmen können: Der Grieche Strabon nannte sie in seiner Weltbeschreibung „Geographika“im Jahr 18 nach Christus.