Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Allein, aber nicht ausgestoßen
Beim G20-gipfel geht es auch darum, wie isoliert Russland wegen seines Angriffs auf die Ukraine ist. Dort richten russische Raketen ganz massive Schäden an.
Nusa Dua Auch in den tropisch warmen Gefilden auf Bali unter Palmen am Meer hat Russlands Chefdiplomat Sergej Lawrow keine Chance, dem Kriegsgeschehen in Europa zu entkommen. Auf der beliebten Ferieninsel muss sich der Außenminister gleich zum Start des G20-gipfels führender Wirtschaftsmächte beißende Kritik an Moskaus Invasion in der Ukraine anhören. „Wir müssen den Krieg beenden“, sagt der indonesische Gipfel-gastgeber Joko Widodo – nachdem er kurz zuvor Lawrow mit einem herzlichen Lächeln und einem Klaps auf seinen Arm begrüßt hat. „Wenn der Krieg nicht endet, wird es für die Welt schwierig sein, nach vorne zu gehen.“
Doch von einem Ende des Krieges kann keine Rede sein: Mit über 90 Raketen und Marschflugkörpern hat Russland am Dienstag das Energiesystem der Ukraine angegriffen und schwere Schäden verursacht. Es war ukrainischen Militärangaben zufolge der bislang massivste Angriff auf die Infrastruktur seit Kriegsbeginn vor gut acht Monaten. Etwa sieben Millionen Haushalte saßen den Behörden zufolge am Dienstag zeitweise im Dunkeln, weil der Strom ausfiel oder abgeschaltet werden musste.
Zwar sei es gelungen, etwa 70 der anfliegenden Geschosse abzuschießen, teilte das ukrainische Präsidialamt in Kiew mit. Doch 15 Objekte der Energieversorgung in verschiedenen Landesteilen seien getroffen worden, sagte Vizechef Kyrylo Tymoschenko im Nachrichtendienst Telegram. Auch die Hauptstadt Kiew wurde getroffen, wobei nach Behördenangaben eine Frau getötet wurde.
Der russische Präsident kam nicht nach Bali – er blieb als Oberbefehlshaber in der Heimat. Und überlässt seinem erfahrenen Außenminister den schwierigen Balanceakt, nun erstmals auch wieder mit dem Westen ins Gespräch zu kommen. Dieser nutzt die Pausen für Gespräche mit seinem chinesischen Kollegen Wang Yi und mit Un-generalsekretär António Guterres. Inwieweit er auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron wirklich ins Gespräch kommt, darüber gibt es widersprüchliche Aussagen.
Noch im Juli war Lawrow beim Außenministertreffen auf Bali durch vorzeitige Abreise der Kritik am Krieg ausgewichen. Nun bleibt er sogar während einer Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Saal. In einer emotionalen Rede an die Staats- und Regierungschefs fordert der Staatschef in Kiew einmal mehr den Abzug russischer Truppen aus der Ukraine und die Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit des Landes. Er nennt auch Bedingungen, um über ein Ende des Kriegs zu verhandeln, darunter Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Unterm Strich aber bleiben weiter gegenseitige Vorwürfe Kiews und Moskaus.
Da mutet es schon als kleine Sensation an, was Eu-ratspräsident Charles Michel zu Beginn des Gipfels verkündet: Die Unterhändler der 19 Teilnehmerstaaten und der EU hätten sich auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt, und zwar alle – inklusive Russlands. Viele hatten erwartet, dass bis zur letzten Minute um diese Erklärung gerungen wird.
„Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste und betonten, dass er immenses menschliches Leid verursacht“, heißt es in dem Entwurf für die Abschlusserklärung. Auch für steigende Inflation, gebremstes Wirtschaftswachstum und die Energie- und Ernährungskrise wird der Krieg verantwortlich gemacht. Das entspricht fast schon den kühnsten Erwartungen derjenigen westlichen Staats- und Regierungschefs, die mit dem Ziel nach Bali gereist sind, Russland bei diesem Gipfel möglichst weitgehend zu isolieren. Aber es heißt in der Erklärung auch: „Es gab andere Ansichten und unterschiedliche Einschätzungen der Lage und Sanktionen.“
Denn die Sichtweise Lawrows ist eine andere: „Unsere westlichen Kollegen haben auf jede erdenkliche Weise versucht, diese Erklärung zu politisieren, und sie haben versucht, Formulierungen reinzuschmuggeln, die eine Verurteilung der Handlungen der Russischen Föderation im Namen der ganzen G20 implizieren würden, einschließlich uns selbst.“