Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mehr als nur Applaus

Zum ersten Mal wollen Krankensch­western und Pfleger in ganz Großbritan­nien streiken. Sie fordern deutlich mehr Gehalt. Hinzu kommt: Die Bürger warten immer länger in den Notaufnahm­en oder auf einen Krankenwag­en.

- Metro Von Susanne Ebner

London Ellie Mcnicol ist noch nicht lange in der Pflege tätig, hat aber bereits genug gesehen, um zu wissen, dass sich die Dinge ändern müssen. „Wegen des Personalma­ngels passieren viele unnötige Fehler“, sagt die 22-Jährige, die an der University of Bristol studiert. „Wenn es mir nicht so wichtig wäre, Menschen zu helfen, würde ich in Erwägung ziehen aufzuhören.“Wie Mcnicol wollen viele Pflegerinn­en und Pfleger auf die Zustände in britischen Krankenhäu­sern aufmerksam machen. Sie wollen deshalb zum ersten Mal in der Geschichte Großbritan­niens in den Streik treten. „Die hart arbeitende­n Helden des Krankenhau­ses haben beschlosse­n, dass sie für ihre Leistungen mehr wollen als nur Applaus“, titelte die Zeitung zuletzt.

„Aus Wut werden nun Taten. Unsere Mitglieder haben genug“, betonte Pat Cullen, Geschäftsf­ührerin der zuständige­n Gewerkscha­ft „Royal College of Nursing“(RCN) mit rund 300.000 Mitglieder­n. Mit den Arbeitsnie­derlegunge­n in vielen Krankenhäu­sern des Landes wird Ende des Jahres gerechnet. Die Angestellt­en fordern ein Gehaltsplu­s von fünf Prozentpun­kten über der Inflations­rate. Diese liegt derzeit bei zwölf Prozent.

Das Einstiegsg­ehalt für eine Krankensch­wester beträgt umgerechne­t rund 30.000 Euro pro Jahr. Es sei insbesonde­re die schlechte Bezahlung, die die Menschen veranlasse, den NHS zu verlassen, betont die Gewerkscha­ft. Im vergangene­n Jahr kehrten nach Angaben der Institutio­n für Pflege- und Hebammenbe­rufe „Nursing and Midwifery Council“25.000 Pflegekräf­te dem NHS den Rücken.

Das System sei seit Jahren unterfinan­ziert, erklären Experten. Hinzu kommen strukturel­le Probleme im Management sowie die Auswirkung­en des Brexit und der Pandemie. Beides habe dazu geführt hat, dass viele Europäer das Land verlassen haben und nicht zurückkame­n – darunter auch viele Pfleger.

Die Auswirkung­en für Patientinn­en und Patienten sind fatal. Die Zahl der Menschen, die allein in England auf eine Behandlung warten, hat im August mit sieben Millionen ein Rekordhoch erreicht, auch weil der NHS darum kämpft, den pandemiebe­dingten Versorgung­srückstand aufzuarbei­ten.

Statistike­n zeigen, dass die durchschni­ttliche Wartezeit auf einen Krankenwag­en bei einem Notruf im Fall von Verbrennun­gen, Epilepsie oder bei einem Schlaganfa­ll 41 Minuten und 18 Sekunden beträgt. 2018 waren es im Schnitt noch rund 20 Minuten. Ähnlich angespannt ist die Lage in den Notaufnahm­en. Rund ein Drittel der Patienten mussten zuletzt über vier Stunden ausharren, einige sogar bis zu zwölf Stunden.

Eine Hauptursac­he dafür ist der Mangel an Betten für Patienten in den Krankenhäu­sern. Laut einer Analyse der Denkfabrik King’s Fund sank deren Zahl in den vergangene­n zehn Jahren um elf Prozent. In Europa hat Experten zufolge nur Schweden weniger Betten pro Kopf. Zusätzlich erschwert wird die Lage dadurch, dass ältere Patientinn­en und Patienten nicht entlassen werden können, weil nicht genug Plätze in Pflegeeinr­ichtungen vorhanden sind.

Angesichts der enormen Herausford­erungen steht der NHS auch für den neu gewählten Premiermin­ister Rishi Sunak weit oben auf der Agenda. Auf die versproche­nen umgerechne­t 570 Millionen Euro, mit denen die konservati­ve Regierung die Lage in den Kliniken fürs Erste verbessern wollte, warten viele Häuser, auch bedingt durch das anhaltende Chaos in Westminste­r, nach wie vor vergeblich.

 ?? Foto: Danny Lawson, dpa ?? Schon jetzt machen Briten bei Demonstrat­ionen auf die Probleme des NHS aufmerksam. Bald streiken auch die Beschäftig­ten.
Foto: Danny Lawson, dpa Schon jetzt machen Briten bei Demonstrat­ionen auf die Probleme des NHS aufmerksam. Bald streiken auch die Beschäftig­ten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany