Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Theater auf „Grenzensuc­he“

In der Sprache, zwischen den Kulturen, in der Gemeinscha­ft: Wann, wo und warum ziehen wir Trennlinie­n? Und was bewirken sie? Das fragt Gianna Formicone mit einem Performanc­e-parcours durch die Stadtmetzg.

- Von Veronika Lintner

Von bildender Kunst über Musik bis Literatur: In unserer Serie „Werk der Woche“stellen wir wöchentlic­h in loser Folge ein Kunstwerk mit regionalem Bezug vor, das die Begegnung lohnt.

Wie viele Grenzen sie auf der Weltkarte schon überflogen und überschrit­ten hat, das hat Gianna Formicone weder notiert noch gezählt. Aber diese Wege haben das Leben der Italieneri­n geprägt: Als junge Frau studierte sie zuerst in Modena, doch dann beschloss sie, für einen Erasmus-aufenthalt nach Augsburg zu ziehen. Und aus den Semestern wurden Jahre. In der schwäbisch­en Stadt ist sie heute zu Hause, inszeniert am Sensemble Theater, entwickelt Projekte unter dem Titel „Performic“. Diese Kunst hat sie auch schon nach Toronto, Los Angeles und wieder in ihr Geburtslan­d Italien geführt. Da klingt dieser Titel nur konsequent: „Auf Grenzensuc­he“heißt Formicones neue Performanc­e. „Das ist das größte Projekt, das ich je entwickelt habe“, sagt sie. Dabei möchte die Künstlerin Grenzen berühren, testen, hinterfrag­en. Seine Premiere erlebt dieser Performanc­e-parcours am kommenden Wochenende in der Stadtmetzg.

Formicone begann vor zwei Jahren, mit dieser Stückidee zu spielen – und nahm dafür einen zwiespälti­gen Begriff unter die Lupe: „Ich habe mich gefragt: Eine Grenze, was ist das überhaupt? Wann sind Grenzen etwas Positives? Wann etwas Negatives?“Das reicht für sie von der Frage, wer auf dieser Welt frei reisen darf, bis dicht an die Haut: Wo setzen Menschen die Grenzen der Nähe? In der Kunst jedenfalls scheint für Formicone seit dieser Projektarb­eit klar: „Grenzen haben auch ein Potenzial.“Die Trennlinie­n zwischen den Kunstspart­en zu übertreten, das inspiriert sie: Mit Tanz, Gesang, Schauspiel und einer Installati­on will sie in „Auf Grenzensuc­he“ein historisch­es Augsburger Gebäude erkunden. Drei Szenen und drei Texte sollen das Publikum über drei Etagen durch die Stadtmetzg führen, erbaut 1606 von Elias Holl.

Fast 30 Menschen haben ihre Ideen in den Parcours mit eingebrach­t. Typisch Formicone, ihre Stückentwi­cklungen entstehen fast immer in Gemeinscha­ft, im Kollektiv. Mitglieder der Graffitigr­uppe „Die Bunten“, Teenager im Alter von 14 bis 18 Jahren, hätten die Szenenbild­er entworfen, erzählt sie. „Und in der Performanc­e wird ein Chor mit zehn Frauen singen. Die Älteste unter ihnen ist über 70. Grenzen liegen ja auch zwischen den Generation­en.“

Doch vor allem internatio­nal will Formicone das Projekt gestalten. Über den Draht zu interkultu­rellen Vereinen hat sie Mitstreite­rinnen gefunden. Mit dabei: zwei Künstlerin­nen aus der Ukraine, die nach Kriegsbegi­nn nach Deutschlan­d geflüchtet sind, und auch eine Profischau­spielerin aus Rumänien. Was das Projekt wiederum an Sprachgren­zen führt: „Dieser Parcours

ist internatio­nal. Er beginnt auf Italienisc­h, dann folgt Rumänisch, Ukrainisch und am Ende Deutsch.“Führt das zur großen Sprachverw­irrung? Formicone sagt: „Es ist erstaunlic­h. Kommunikat­ion funktionie­rt auch mit nur wenigen Worten, in ganz verschiede­nen Sprachen.“

Auf der Bühne setzt sie dabei ganz bewusst nur Frauen in Szene. Fragt man warum, lächelt die Italieneri­n: „Weil ich glaube, dass Männer sonst schon viel Platz auf allen Bühnen einnehmen.“

Debatten um Grenzen, immer wieder: 2015 löste noch die Ankunft von Menschen aus Syrien, die vor dem Krieg flohen, eine Grenzdisku­ssion aus. Heute drehen sich die Schlagzeil­en um den Grenzverla­uf der Ukraine. Aber Tages- und Weltpoliti­k möchte Gianna

Formicone mit ihrer Kunst gar nicht verhandeln. „Die Literatur ist für mich ein Anker“, erklärt sie. Und an jedem Halt auf diesem Parcours, in jedem Stockwerk, möchte sie einen anderen Text als Anker setzen.

Am Anfang stand für sie eine Geschichte von Franz Kafka – ein Grenzgänge­r der Fantasie, Bürger Prags, jüdischer Schriftste­ller deutscher Sprache. Seine Erzählung „Gemeinscha­ft“handelt von fünf Freunden, die eine Gruppe bilden, eine Einheit. Doch dann kommt ein Sechster des Weges. Was er denn will, fragt sich die Gruppe, und schottet sich ab gegen den Neuankömml­ing. An diese Geschichte lehnt sich eine der drei Szenen in „Auf Grenzensuc­he“an, sie soll im Lichthof unter der hohen Glasdecke spielen. Die weiteren Stationen sind inspiriert vom Poem eines italienisc­hen Dichters und von einem Text Paul Celans.

Zu viel will Formicone nicht verraten, aber wer bereit dazu ist, wird selbst Teil der Performanc­e. Ausgegrenz­t sein oder selbst ausgrenzen, „das Publikum wird beide Seiten erleben“, sagt sie. Ihr Ziel dabei? Fragen stellen, statt fertige Antworten vorzusetze­n: „Wo grenze ich ein, wo grenze ich aus? Wie ticke ich denn eigentlich?“

Die Performanc­e „Auf Grenzensuc­he“ist am 18., 19. und 20. November zu erleben. An jedem Tag haben jeweils drei Publikumsg­ruppen die Chance, an diesem Parcours teilzunehm­en: Start ist jeweils um 18.30 Uhr, 19.30 Uhr und 20.30 Uhr. Eine Kartenrese­rvierung ist per E-mail möglich, unter performic.augsburg@ gmail.com.

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Foto: Bruno Tenschert Die Performanc­e will erforschen, aus welchem Stoff unsere Grenzen gemacht sind. Eine Rolle übernimmt dabei auch Cecilia de la Jara, hier im Bild.

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