Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Theater auf „Grenzensuche“
In der Sprache, zwischen den Kulturen, in der Gemeinschaft: Wann, wo und warum ziehen wir Trennlinien? Und was bewirken sie? Das fragt Gianna Formicone mit einem Performance-parcours durch die Stadtmetzg.
Von bildender Kunst über Musik bis Literatur: In unserer Serie „Werk der Woche“stellen wir wöchentlich in loser Folge ein Kunstwerk mit regionalem Bezug vor, das die Begegnung lohnt.
Wie viele Grenzen sie auf der Weltkarte schon überflogen und überschritten hat, das hat Gianna Formicone weder notiert noch gezählt. Aber diese Wege haben das Leben der Italienerin geprägt: Als junge Frau studierte sie zuerst in Modena, doch dann beschloss sie, für einen Erasmus-aufenthalt nach Augsburg zu ziehen. Und aus den Semestern wurden Jahre. In der schwäbischen Stadt ist sie heute zu Hause, inszeniert am Sensemble Theater, entwickelt Projekte unter dem Titel „Performic“. Diese Kunst hat sie auch schon nach Toronto, Los Angeles und wieder in ihr Geburtsland Italien geführt. Da klingt dieser Titel nur konsequent: „Auf Grenzensuche“heißt Formicones neue Performance. „Das ist das größte Projekt, das ich je entwickelt habe“, sagt sie. Dabei möchte die Künstlerin Grenzen berühren, testen, hinterfragen. Seine Premiere erlebt dieser Performance-parcours am kommenden Wochenende in der Stadtmetzg.
Formicone begann vor zwei Jahren, mit dieser Stückidee zu spielen – und nahm dafür einen zwiespältigen Begriff unter die Lupe: „Ich habe mich gefragt: Eine Grenze, was ist das überhaupt? Wann sind Grenzen etwas Positives? Wann etwas Negatives?“Das reicht für sie von der Frage, wer auf dieser Welt frei reisen darf, bis dicht an die Haut: Wo setzen Menschen die Grenzen der Nähe? In der Kunst jedenfalls scheint für Formicone seit dieser Projektarbeit klar: „Grenzen haben auch ein Potenzial.“Die Trennlinien zwischen den Kunstsparten zu übertreten, das inspiriert sie: Mit Tanz, Gesang, Schauspiel und einer Installation will sie in „Auf Grenzensuche“ein historisches Augsburger Gebäude erkunden. Drei Szenen und drei Texte sollen das Publikum über drei Etagen durch die Stadtmetzg führen, erbaut 1606 von Elias Holl.
Fast 30 Menschen haben ihre Ideen in den Parcours mit eingebracht. Typisch Formicone, ihre Stückentwicklungen entstehen fast immer in Gemeinschaft, im Kollektiv. Mitglieder der Graffitigruppe „Die Bunten“, Teenager im Alter von 14 bis 18 Jahren, hätten die Szenenbilder entworfen, erzählt sie. „Und in der Performance wird ein Chor mit zehn Frauen singen. Die Älteste unter ihnen ist über 70. Grenzen liegen ja auch zwischen den Generationen.“
Doch vor allem international will Formicone das Projekt gestalten. Über den Draht zu interkulturellen Vereinen hat sie Mitstreiterinnen gefunden. Mit dabei: zwei Künstlerinnen aus der Ukraine, die nach Kriegsbeginn nach Deutschland geflüchtet sind, und auch eine Profischauspielerin aus Rumänien. Was das Projekt wiederum an Sprachgrenzen führt: „Dieser Parcours
ist international. Er beginnt auf Italienisch, dann folgt Rumänisch, Ukrainisch und am Ende Deutsch.“Führt das zur großen Sprachverwirrung? Formicone sagt: „Es ist erstaunlich. Kommunikation funktioniert auch mit nur wenigen Worten, in ganz verschiedenen Sprachen.“
Auf der Bühne setzt sie dabei ganz bewusst nur Frauen in Szene. Fragt man warum, lächelt die Italienerin: „Weil ich glaube, dass Männer sonst schon viel Platz auf allen Bühnen einnehmen.“
Debatten um Grenzen, immer wieder: 2015 löste noch die Ankunft von Menschen aus Syrien, die vor dem Krieg flohen, eine Grenzdiskussion aus. Heute drehen sich die Schlagzeilen um den Grenzverlauf der Ukraine. Aber Tages- und Weltpolitik möchte Gianna
Formicone mit ihrer Kunst gar nicht verhandeln. „Die Literatur ist für mich ein Anker“, erklärt sie. Und an jedem Halt auf diesem Parcours, in jedem Stockwerk, möchte sie einen anderen Text als Anker setzen.
Am Anfang stand für sie eine Geschichte von Franz Kafka – ein Grenzgänger der Fantasie, Bürger Prags, jüdischer Schriftsteller deutscher Sprache. Seine Erzählung „Gemeinschaft“handelt von fünf Freunden, die eine Gruppe bilden, eine Einheit. Doch dann kommt ein Sechster des Weges. Was er denn will, fragt sich die Gruppe, und schottet sich ab gegen den Neuankömmling. An diese Geschichte lehnt sich eine der drei Szenen in „Auf Grenzensuche“an, sie soll im Lichthof unter der hohen Glasdecke spielen. Die weiteren Stationen sind inspiriert vom Poem eines italienischen Dichters und von einem Text Paul Celans.
Zu viel will Formicone nicht verraten, aber wer bereit dazu ist, wird selbst Teil der Performance. Ausgegrenzt sein oder selbst ausgrenzen, „das Publikum wird beide Seiten erleben“, sagt sie. Ihr Ziel dabei? Fragen stellen, statt fertige Antworten vorzusetzen: „Wo grenze ich ein, wo grenze ich aus? Wie ticke ich denn eigentlich?“
Die Performance „Auf Grenzensuche“ist am 18., 19. und 20. November zu erleben. An jedem Tag haben jeweils drei Publikumsgruppen die Chance, an diesem Parcours teilzunehmen: Start ist jeweils um 18.30 Uhr, 19.30 Uhr und 20.30 Uhr. Eine Kartenreservierung ist per E-mail möglich, unter performic.augsburg@ gmail.com.