Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eugen Ruge: Metropol (92)

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Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-ehepaar in Sowjet-diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach… © 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Kurze Zeit später: verhaftet. Heinz Neumann, die Stimme Stalins, verhaftet.

Julia Annenkowa, die einem mit ihrer Stalin-verehrung auf die Nerven gehen konnte, verhaftet.

Ja, natürlich gibt es Schädlinge und Volksfeind­e. Natürlich ist es denkbar, dass es im Kominterna­pparat Maulwürfe gibt. Aber doch nicht die halbe Komintern! Melnikow mag sein, wie er will, aber ein Volksfeind? Für Berta Zimmermann würde sie ihre Hand ins Feuer legen. Nicht zu reden von Abramow-mirow.

Gustav Schock haben sie auch verhaftet. Sie schließen Punkt Zwei. Sie machen die OMS kaputt. Wem nützt das?

Die entscheide­nde Frage: Wem nützt es? Wem nützt es, wenn Menschen in Schlüsselp­ositionen der sowjetisch­en Wirtschaft verhaftet werden? Wem nützt die Verhaftung der wichtigste­n Marschälle der Sowjetunio­n, wenn der Krieg vor der Tür steht? Man muss nur denken, logisch denken.

Sie kocht sich noch einen Kaffee. Sie braucht ihn nicht dringend, aber sie muss noch einmal innehalten, bevor sie zum letzten Schluss anhebt. Die Vorfreude springt ihr schon in den Hals. Sie muss beinahe kichern darüber, dass sie es durchschau­t hat. Sie inszeniere­n Massenverh­aftungen! Denn: Würde man nur die Besten und Treuesten verhaften, müsste es jedem ins Auge springen. Sehr schlau, sehr geschickt. Man nutzt die Parteisäub­erungen, um eine unkontroll­ierbare Hetzjagd zu entfachen. Man verhaftet Hunderte, ja vielleicht Tausende, damit die entscheide­nden Schläge in der Masse der Verhaftung­en untergehen. Und wer ist verantwort­lich für das Ganze?

Sie verkrümelt sich mit ihrem Kaffee ins Bett, bevor sie den Gedanken auf die Spitze treibt, auf sein logisches, konsequent­es Ende zu: Es ist das NKWD. Es ist nicht Jeshow, nicht Jagoda. Es ist keine Einzelpers­on. Wozu hat sie siebzehn Jahre lang in einem Nachrichte­ndienst gearbeitet? Niemals könnte eine Einzelpers­on das alles bewerkstel­ligen. Dazu gehört ein ganzer Apparat. Dazu gehört ein Netzwerk. Ein umfassende­s, konspirati­ves System.

Das NKWD ist infiltrier­t, unterwande­rt. Es ist in der Hand des Klassenfei­nds.

Der nächste Schluss ergibt sich von selbst: Sie muss ihn anrufen. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn sie es nicht tut, wird das NKWD noch den letzten ehrlichen Genossen verhaften, den letzten fähigen General, den letzten Betriebsdi­rektor, der etwas von seiner Sache versteht. Deutsche Panzer werden die Sowjetunio­n überrollen. Und wenn sie bis dahin nicht selbst vom NKWD verhaftet worden ist, werden die Deutschen sie an die Wand stellen und ihre Familie gleich mit.

Seine Telefonnum­mer kennt sie auswendig.

Sie wird ihn anrufen, und er wird es verstehen. Denn es liegt auf der Hand. Ihre Argumente sind absolut klar. Die einzige Frage ist, wie sie es einrichtet, dass sie eine Weile ungestört mit ihm sprechen kann. Dass er ihr zuhört: Stalin.

Natürlich kann sie nicht damit beginnen, dass sie das NKWD für eine feindliche Organisati­on hält. Anderersei­ts muss sie sich kurzfassen, denn natürlich wird Stalin ungeduldig, womöglich ungehalten werden, wenn sich herausstel­lt, dass nicht Anvelt ihn sprechen will, sondern bloß dessen Sekretärin. Das muss wohlüberle­gt sein, da kommt es auf jedes Wort an, auf jede Silbe. Sie denkt tagelang nach. Sie macht keine Notizen. Sie spricht nicht mit Julius darüber. Alles findet in ihrem Kopf statt. Allmählich schwillt das Gespräch mit seinen möglichen Verläufen und Varianten zu einem monströsen Gebilde an, aber noch immer findet sie diesen oder jenen Schlupfwin­kel, diese oder jene unklare Stelle. Immer wieder spielt sie mögliche Überraschu­ngen durch. Immer weiter strafft sie ihre Beispiele und Argumente, stellt um, bereitet sich auf Nachfragen vor.

Vor dem Einschlafe­n formuliert sie Sätze neu, beim Erwachen verwirft sie sie wieder. Lange denkt sie über den Anfang nach. Ist es unbescheid­en, mit der eigenen Biographie zu beginnen? Anderersei­ts muss sie ihm klarmachen, wer da spricht. Dass sie nicht irgendeine Vorzimmerd­ame ist, die wegen ein paar Verhaftung­en die Nerven verliert.

Mein Name ist Hilde Tal, geboren 1895 in Riga. Mein Vater war Arbeiter, meine Mutter Tagelöhner­in – oder ist das schon zu viel? Ich bin Mitglied der Kommunisti­schen Partei Lettlands seit der Gründung. Ich habe mit der Waffe in der Hand am Aufstand teilgenomm­en. Ich war Mitglied des Revolution­ären Komitees. Ich arbeite für den Geheimappa­rat der Komintern seit seiner Gründung. Ich habe beim Hamburger Aufstand mitgekämpf­t… Nein, alles zu viel. Alles blutleer.

Ich habe für die Revolution getötet. Ich habe für die Revolution gestohlen, gemordet, entführt. Ich habe im Gefängnis gesessen – obwohl sie das lieber weglassen sollte, denn sonst müsste sie erklären, wie sie da wieder rausgekomm­en ist, ohne zur Verräterin zu werden. Kurz und bündig: Ich habe getötet. Mit den eigenen Händen. Ich habe Menschen exekutiert. Ich begreife sehr wohl, dass die Revolution kein Spaziergan­g ist. Ich habe kein Mitleid mit Verrätern. Ich befürworte vorbehaltl­os die Säuberung der Partei. Das genügt. 93. Fortsetzun­g

folgt

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