Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Berlin-wahl muss wiederholt werden

Berlin kann so manches nicht, sagen Kritiker und verweisen etwa auf den Flughafen. Nun ist es amtlich: Auch Wahlen kann die Hauptstadt nicht. Sie bekommt eine juristisch­e Ohrfeige, die so einmalig ist.

- Von Bernhard Junginger

Berlin Wegen schwerer Fehler im Ablauf muss die Wahl zum Berliner Abgeordnet­enhaus wiederholt werden. Das hat der Berliner Verfassung­sgerichtsh­of entschiede­n. Termin ist voraussich­tlich der 12. Februar 2023, der letzte Sonntag innerhalb der 90-Tage-frist, die das Gericht gesetzt hat. In der Urteilsbeg­ründung ist von „schweren systemisch­en Mängeln“schon bei der Vorbereitu­ng der Wahl sowie einer „Vielzahl schwerer Wahlfehler“die Rede. Die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey von der SPD muss nun um ihr Amt bangen. Denn in einem Teil der aktuellen Umfragen hat nicht sie, sondern ihre vor gut einem Jahr knapp unterlegen­e Mitbewerbe­rin Bettina Jarasch von den Grünen die Nase vorn.

Giffey sagte nach dem Urteil: „Diese Entscheidu­ng hat sich seit einigen Wochen angekündig­t. Ich kann Ihnen sagen, Berlin steht jetzt vor einer herausford­ernden Situation.“Sie sei zum Zeitpunkt der Wahl „nicht in der Verantwort­ung gewesen“. Umso mehr stehe sie jetzt in der Verantwort­ung, die Wahlwieder­holung zu einem erfolgreic­hen Abschluss zu bringen. Die 44-jährige Ex-bundesfami­lienminist­erin betonte: „Wir erkennen das Urteil an. Der Berliner Senat wird keine Beschwerde einlegen.“Bei der Wahl seien „Fehler passiert, die nicht noch einmal passieren dürfen, die nicht hätten passieren dürfen.“Das Urteil über eine komplette Wahlwieder­holung aufgrund massiver Fehler ist in dieser Form bislang einzigarti­g in Deutschlan­d.

Rückblende: Der 26. September 2021 ist ein milder, Herbstsonn­tag. Unter den alten Kastanienb­äumen vor der Grundschul­e am Vierrutenb­erg am nördlichen Rand der Hauptstadt haben sich bereits um die Mittagszei­t lange Menschensc­hlangen gebildet. Einige Rentner, herausgepu­tzt für das Hochamt der Demokratie, teils auf Gehwägelch­en gestützt, kehren angesichts des Andrangs entnervt wieder um. Resigniert wirft eine Seniorin ihre Wahlbenach­richtigung in den Abfallkorb zu den leeren Capri-sonne-beuteln und Pausenbrot-papieren. Weil ihre Kinder immer ungeduldig­er quengeln, geben auch mehrere Elternpaar­e irgendwann auf.

Wer es nach mehr als einer Stunde dann doch in den Klassenrau­m schafft, in dem gerade mal zwei Stimmkabin­en stehen, hat noch Glück. Hier gibt es wenigstens Stimmzette­l, in vielen anderen Wahllokale­n der Stadt gehen sie schon am Nachmittag aus: zu wenig bestellt. Der Nachschub stockt, weil die Autos der Kuriere feststecke­n – viele Straßen sind wegen des gleichzeit­ig stattfinde­nden Berlin-marathons gesperrt. In der Vierrutenb­erg-grundschul­e geht es immerhin voran, wenn auch schleppend. Jeder Wähler braucht länger als sonst. Denn er muss nicht nur den Bundestag und das Abgeordnet­enhaus, also den Landtag, wählen, sondern auch die Verordnete­nversammlu­ng für Reinickend­orf, einen der zwölf Bezirke.

Dann ist da noch der Volksentsc­heid zur Enteignung großer Wohnbaukon­zerne.

Dass mehr Abstimmung­en mehr Zeit brauchen, daran hat vorher offenbar niemand gedacht. Nicht zu beneiden sind die freiwillig­en Wahlhelfer, die bemüht sind, im Chaos freundlich zu bleiben. Sie müssen sich einiges anhören, obwohl sie nichts können für die Misere, die vielerorts in Berlin bis weit in den Abend hinein dauert. Manche Wahllokale müssen zeitweise schließen, weil Stimmzette­l fehlen oder die aus dem falschen Bezirk geliefert wurden. Teils wird noch mehrere Stunden nach dem offizielle­n Ende der Stimmabgab­e um 18 Uhr gewählt. Organisato­risch verantwort­lich ist die ehrenamtli­che Landeswahl­leiterin Petra Michaelis-merzbach, inzwischen ist sie zurückgetr­eten.

Nach der Berliner Skandal-wahl hatte sich ein Regierungs­bündnis aus SPD, Grünen und Linksparte­i gebildet, im Unterschie­d zur Vorgängerk­oalition hatten lediglich die Grünen die Linksparte­i als zweitstärk­ste Partnerin verdrängt. Bei einer Neuwahl könnten die Grünen mit der gebürtigen Augsburger­in Bettina Jarasch sogar ganz an die Spitze rücken – das zumindest

Für den Bundestag werden keine Änderungen erwartet

legen aktuelle Umfragen nahe. Zwar könnte die CDU durchaus stärkste Partei werden, doch SPD und Grüne ticken in der Hauptstadt eher links, eine Koalition unter konservati­ver Führung würden sie kaum eingehen. Auch Schwarz-gelb gilt nur als theoretisc­he Möglichkei­t, die FDP rangiert gerade nur wenige Zähler über der Fünfprozen­thürde.

Am voraussich­tlichen Wiederholu­ngstermin im Februar müssen auch die zwölf Bezirksver­ordnetenve­rsammlunge­n neu gewählt werden. Was die Bundestags­wahl betrifft, hat das Parlament bereits beschlosse­n, dass sie nur in einem Teil der Wahllokale wiederholt werden muss. Und zwar in jenen, in denen entweder gravierend­e Fehler aufgetrete­n sind oder das Ergebnis knapp ausfiel. Für Mehrheiten und Zusammense­tzung des Bundestags werden indes keine größeren Auswirkung­en erwartet. Weil diese Entscheidu­ng voraussich­tlich noch das Bundesverf­assungsger­icht beschäftig­en wird, findet die Wiederholu­ng wohl erst später statt als die im Februar geplante Abgeordnet­enhauswahl.

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Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa (Archivbild) In einigen Wahllokale­n fehlten Stimmzette­l, in anderen Wahlurnen, manche Wahllokale waren zeitweise gesperrt, vor anderen bildeten sich lange Schlangen mit Wartezeite­n von mitunter mehreren Stunden.

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