Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Martinschule war Schutzraum für Roma und Sinti“
Die ehemalige Lehrerin Ilse Hoffmann trifft Marcella Reinhardt auf dem Schulhof, wo sich die beiden Frauen vor 47 Jahren erstmals begegneten. Sie haben sich viel zu erzählen – und einiges klarzustellen.
Ilse Hoffmann und Marcella Reinhardt stehen im Schulhof und reden von früher, vom Herbst 1975, als die kleine Marcella in die erste Klasse kam und sich in der Pause zu der Lehrerin ihres älteren Bruders flüchtete. „Sie hatte damals wohl Angst vor der Schule und dem vielen Ungewohnten. Meine Kollegen spöttelten dann, jetzt käme wieder mein Bauchwärmer, weil sie ihren Kopf an meinem Magen verbarg“, erzählt Hoffmann. Heute ist aus dem schüchternen Mädchen eine selbstbewusste Frau geworden, die sich als Vorsitzende des Regionalverbandes der Sinti und Roma für die Menschen einsetzt, deren Vorfahren im Dritten Reich ermordet wurden und die noch heute oft mit Vorurteilen zu kämpfen haben.
Die Begegnung der pensionierten Lehrerin mit Reinhardt findet auch deshalb an der Löweneckschule statt, weil in dem Gebäude viele Jahre lang die Martinschule untergebracht war, eine Sonderschule, die die Kinder vieler Sintiund Roma-familien besuchten. Es sei nicht leicht gewesen, als Zigeunerin dorthin geschoben zu werden, sagte Reinhardt kürzlich beim Festakt im Augsburger Rathaus anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Zentralverbandes der Deutschen Sinti und Roma.
Für Hoffmann waren diese Worte
der Anlass für einen Brief an unsere Redaktion. Das Wort „geschoben“wolle sie so nicht stehen lassen. Die Martinschule – heute heißt sie Sonderpädagogisches Förderzentrum – sei ein Schonund Schutzraum mit viel Verständnis für die Roma-, Sinti- und Jenischen-kinder gewesen. „Der Begriff Sonderschule hatte rein vom Sachlichen her damals noch kaum negative Besetzung. Man versuchte, nach dem Conterganschock eine möglichst breite Palette an Sonderschul-arten aufzubauen, um so vielen Kindern wie möglich eine adäquate Förderung zum Ausgleich von Defiziten zu bieten“, erläutert die Pädagogin. Im Falle der Roma und Sinti waren das die Lerndefizite, die durch die monatelange Wanderschaft vieler
Familien im Frühjahr und Sommer entstanden.
Reinhardts Eltern hingegen, die ihr Geld als Textilhändler verdienten, ermöglichten ihren Kindern einen nahezu kontinuierlichen Schulbesuch in Oberhausen. Die Familie lebte in einem Haus, das direkt an das Schulgrundstück grenzte. In der Pause sei ihr Vater immer am Zaun gestanden und habe Brote an seine und andere Kinder verteilt, erzählt Marcella Reinhardt. „Vielleicht wollte er auch aufpassen, ob uns jemand haut.“Er als Holocaustüberlebender habe wohl immer unterbewusst Angst um seine Kinder gehabt.
Die 54-jährige Reinhardt hat keine schlechten Erinnerungen an ihre Schulzeit, auch wenn sie die damalige Bezeichnung „Sonderschule für Lernbehinderte“immer gehasst habe. Mit ihren guten Noten hätte sie lieber die Löweneckschule im selben Haus besucht. „Doch mein Vater hat dann immer gesagt, bleib, wo du bist.“Da war das Familienoberhaupt konsequent. Als ihre beiden ebenfalls begabten älteren Brüder nach einem Rückführungskurs an die Volksschule wechseln sollten, habe der Vater auch ihnen seine Zustimmung zum Wechsel verweigert, erinnert sich Lehrerin Hoffmann. In ihrem Inneren verstand sie, warum er so handelte: „Er wusste, dass Roma, Sinti und Jenische bei uns angenommen und nicht diskriminiert wurden.“
Nach dem Abschluss an der Martinschule ging Marcella Reinhardt auf Betreiben des Papas an die Berufsschule für Hauswirtschaft, obwohl sie gerne Friseurin geworden wäre. Weil sie im Gegensatz zu vielen Älteren lesen und schreiben konnte, stand sie ihren Leuten darüber hinaus bei Behördengängen zur Seite oder half bei Anträgen auf eine Entschädigung für das in der Ns-zeit erlittene Leid. Die Privatperson wurde zur Funktionärin, um den Sinti und Roma in der Region eine Stimme zu geben. „Als Privatperson hätte ich die Behördenstruktur nie durchdringen können“, sagt sie. Lehrerin Hoffmann zollt der Frau, die sie als schüchternes Mädchen kennengelernt hat, großen Respekt. „Sie hat sich emanzipiert.“
Aus einem schüchternen Mädchen wurde eine emanzipierte Frau
Und sie hat dafür gesorgt, dass ihr Sohn und ihre Tochter die Regelschule besuchen, auch wenn es für sie nicht immer einfach gewesen sei. „Ich habe das Gefühl, dass manche Schulen noch immer ein Problem mit der Identität unserer Kinder haben.“Deswegen besucht Marcella Reinhardt regelmäßig Schulen, um dort über Sinti, Roma und den Holocaust zu berichten. Unkenntnis sei unter den jungen Menschen leider weit verbreitet. „Nur wenn sie das Wort ‘Zigeuner’ hören, geht bei ihnen das Lämpchen an“, sagt sie und versucht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Auch an die Martinschule, die sich mittlerweile an einem anderen Ort in Oberhausen befindet, würde Reinhardt gerne für ein paar Stunden zurückkehren.