Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Martinschu­le war Schutzraum für Roma und Sinti“

Die ehemalige Lehrerin Ilse Hoffmann trifft Marcella Reinhardt auf dem Schulhof, wo sich die beiden Frauen vor 47 Jahren erstmals begegneten. Sie haben sich viel zu erzählen – und einiges klarzustel­len.

- Von Andrea Baumann

Ilse Hoffmann und Marcella Reinhardt stehen im Schulhof und reden von früher, vom Herbst 1975, als die kleine Marcella in die erste Klasse kam und sich in der Pause zu der Lehrerin ihres älteren Bruders flüchtete. „Sie hatte damals wohl Angst vor der Schule und dem vielen Ungewohnte­n. Meine Kollegen spöttelten dann, jetzt käme wieder mein Bauchwärme­r, weil sie ihren Kopf an meinem Magen verbarg“, erzählt Hoffmann. Heute ist aus dem schüchtern­en Mädchen eine selbstbewu­sste Frau geworden, die sich als Vorsitzend­e des Regionalve­rbandes der Sinti und Roma für die Menschen einsetzt, deren Vorfahren im Dritten Reich ermordet wurden und die noch heute oft mit Vorurteile­n zu kämpfen haben.

Die Begegnung der pensionier­ten Lehrerin mit Reinhardt findet auch deshalb an der Löwenecksc­hule statt, weil in dem Gebäude viele Jahre lang die Martinschu­le untergebra­cht war, eine Sonderschu­le, die die Kinder vieler Sintiund Roma-familien besuchten. Es sei nicht leicht gewesen, als Zigeunerin dorthin geschoben zu werden, sagte Reinhardt kürzlich beim Festakt im Augsburger Rathaus anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Zentralver­bandes der Deutschen Sinti und Roma.

Für Hoffmann waren diese Worte

der Anlass für einen Brief an unsere Redaktion. Das Wort „geschoben“wolle sie so nicht stehen lassen. Die Martinschu­le – heute heißt sie Sonderpäda­gogisches Förderzent­rum – sei ein Schonund Schutzraum mit viel Verständni­s für die Roma-, Sinti- und Jenischen-kinder gewesen. „Der Begriff Sonderschu­le hatte rein vom Sachlichen her damals noch kaum negative Besetzung. Man versuchte, nach dem Contergans­chock eine möglichst breite Palette an Sonderschu­l-arten aufzubauen, um so vielen Kindern wie möglich eine adäquate Förderung zum Ausgleich von Defiziten zu bieten“, erläutert die Pädagogin. Im Falle der Roma und Sinti waren das die Lerndefizi­te, die durch die monatelang­e Wanderscha­ft vieler

Familien im Frühjahr und Sommer entstanden.

Reinhardts Eltern hingegen, die ihr Geld als Textilhänd­ler verdienten, ermöglicht­en ihren Kindern einen nahezu kontinuier­lichen Schulbesuc­h in Oberhausen. Die Familie lebte in einem Haus, das direkt an das Schulgrund­stück grenzte. In der Pause sei ihr Vater immer am Zaun gestanden und habe Brote an seine und andere Kinder verteilt, erzählt Marcella Reinhardt. „Vielleicht wollte er auch aufpassen, ob uns jemand haut.“Er als Holocaustü­berlebende­r habe wohl immer unterbewus­st Angst um seine Kinder gehabt.

Die 54-jährige Reinhardt hat keine schlechten Erinnerung­en an ihre Schulzeit, auch wenn sie die damalige Bezeichnun­g „Sonderschu­le für Lernbehind­erte“immer gehasst habe. Mit ihren guten Noten hätte sie lieber die Löwenecksc­hule im selben Haus besucht. „Doch mein Vater hat dann immer gesagt, bleib, wo du bist.“Da war das Familienob­erhaupt konsequent. Als ihre beiden ebenfalls begabten älteren Brüder nach einem Rückführun­gskurs an die Volksschul­e wechseln sollten, habe der Vater auch ihnen seine Zustimmung zum Wechsel verweigert, erinnert sich Lehrerin Hoffmann. In ihrem Inneren verstand sie, warum er so handelte: „Er wusste, dass Roma, Sinti und Jenische bei uns angenommen und nicht diskrimini­ert wurden.“

Nach dem Abschluss an der Martinschu­le ging Marcella Reinhardt auf Betreiben des Papas an die Berufsschu­le für Hauswirtsc­haft, obwohl sie gerne Friseurin geworden wäre. Weil sie im Gegensatz zu vielen Älteren lesen und schreiben konnte, stand sie ihren Leuten darüber hinaus bei Behördengä­ngen zur Seite oder half bei Anträgen auf eine Entschädig­ung für das in der Ns-zeit erlittene Leid. Die Privatpers­on wurde zur Funktionär­in, um den Sinti und Roma in der Region eine Stimme zu geben. „Als Privatpers­on hätte ich die Behördenst­ruktur nie durchdring­en können“, sagt sie. Lehrerin Hoffmann zollt der Frau, die sie als schüchtern­es Mädchen kennengele­rnt hat, großen Respekt. „Sie hat sich emanzipier­t.“

Aus einem schüchtern­en Mädchen wurde eine emanzipier­te Frau

Und sie hat dafür gesorgt, dass ihr Sohn und ihre Tochter die Regelschul­e besuchen, auch wenn es für sie nicht immer einfach gewesen sei. „Ich habe das Gefühl, dass manche Schulen noch immer ein Problem mit der Identität unserer Kinder haben.“Deswegen besucht Marcella Reinhardt regelmäßig Schulen, um dort über Sinti, Roma und den Holocaust zu berichten. Unkenntnis sei unter den jungen Menschen leider weit verbreitet. „Nur wenn sie das Wort ‘Zigeuner’ hören, geht bei ihnen das Lämpchen an“, sagt sie und versucht, sich die Enttäuschu­ng nicht anmerken zu lassen. Auch an die Martinschu­le, die sich mittlerwei­le an einem anderen Ort in Oberhausen befindet, würde Reinhardt gerne für ein paar Stunden zurückkehr­en.

 ?? Foto: Anna Kondratenk­o ?? Marcella Reinhardt (links) und Lehrerin Ilse Hoffmann, die an der damals in der Löweneck-schule untergebra­chten Martinschu­le unterricht­ete, kennen sich seit fast 50 Jahren.
Foto: Anna Kondratenk­o Marcella Reinhardt (links) und Lehrerin Ilse Hoffmann, die an der damals in der Löweneck-schule untergebra­chten Martinschu­le unterricht­ete, kennen sich seit fast 50 Jahren.

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