Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Vettels letzte Runde
Er war der jüngste Formel-1-weltmeister aller Zeiten. Nun endet das Kapitel Motorsport für Sebastian Vettel ausgerechnet in Abu Dhabi, wo er mit 23 Jahren seinen ersten Triumph feierte. Über einen, dem Rennfahren allein längst nicht mehr genug ist.
Abu Dhabi/augsburg Die Flutlichter werden strahlen. Extra für ihn. Diesen einen Moment wird Sebastian Vettel ganz besonders genießen. Noch einmal auf die Strecke, mit allen Leuten aus dem Fahrerlager. Ein gemeinsamer Spaziergang um 20 Uhr am Samstag über den Kurs von Abu Dhabi. Dort, wo Vettel am Sonntag sein letztes Rennen in der Formel 1 bestreiten wird. Am Abend davor werden sie unter dem pompösen Hotel durchlaufen, das über die Rennstrecke gebaut ist. Sie werden am künstlichen Hafen und der Ferrari-world vorbeikommen, dem gigantischen Freizeitpark ganz im Zeichen der berühmten Scuderia. Sie werden laufen und reden. Über eine Karriere, die nach vielen Höhepunkten zu Ende geht. Über viele gemeinsame Erlebnisse. Vettel ist es wichtig, dass alle aus dem Fahrerlager dabei sind. Es soll ein angemessener Abschied werden für einen, der den Motorsport geprägt hat. Dem aber Rennfahren allein mittlerweile nicht mehr genug ist. Vettel hat sich in seiner langen Karriere verändert.
Der 35-Jährige ist mehr als 15 Jahre in der Königsklasse des Motorsports gefahren. Das Talent von einst, das im Juni 2007 für Bmw-sauber in den USA sein Debüt feierte, ist zu einem der besten Formel1-fahrer geworden. Er hat viermal in Folge (2010 bis 2013) den Weltmeistertitel gewonnen. Er hat in dieser Zeit bei Red Bull die Königsklasse geprägt. Er hat aber auch Rückschläge einstecken müssen. Sein Wechsel 2015 zu Ferrari war mit großen Hoffnungen verbunden, letztlich aber trennte sich die ruhmreiche Scuderia frühzeitig von ihm. Er hatte den ersehnten Wm-titel mit Ferrari nicht erreicht und wurde 2020 ausgetauscht. Bei Aston Martin fand er ein neues Zuhause, aber auch keinen Erfolg mehr.
Mittlerweile kann Vettel mit solchen Rückschlägen umgehen. Er hat gelernt, dass Niederlagen zum Sport gehören. Dafür hat er eine Weile gebraucht. Ehrgeiz ist im Motorsport so entscheidend wie ein schnelles Auto. Die Gier nach Erfolgen eint alle Fahrer. Nur teilnehmen, das reicht keinem. Wer in der Formel 1 fährt, will siegen. Doch nur den wenigsten gelingt das.
Vettel hat oft gewonnen. Weil er talentiert war. Weil er eine gute Ausbildung in einem Förderprogramm bekam. Und weil ihn seine gesamte Familie unterstützte. Das erste Kart bekam der kleine Sebastian von Papa Norbert. Gemeinsam schraubten sie daran herum. Was folgte, war die Sehnsucht nach der großen Karriere. Alle in der motorsportbegeisterten Familie steckten zurück, um den Weg für Sebastian zu bereiten. Der geht nun am Sonntag in Abu Dhabi zu Ende.
In der Wüste werden sie alle noch einmal dabei sein und wie schon häufiger beim Saisonende in einem Hotel am Strand übernachten. Seine Frau Hanna mit den beiden Töchtern und dem Sohn. Sein Vater Norbert, der bei Vettels erstem Wm-titel vor lauter Freude die Hose von
Kai Ebel zerriss. 2010 war das, als Vettel mit 23 der bis dahin jüngste Weltmeister wurde. In Abu Dhabi. Auch Bruder Fabian fliegt noch einmal in die Wüste. Der 23-Jährige hatte sich selbst als Rennfahrer versucht. Mittlerweile studiert und arbeitet er in München, mit seiner Freundin wohnt er in Augsburg. Es werden besondere Momente des Abschieds.
53 Siege in der Formel 1, vier Weltmeistertitel. Eine beeindruckende Karriere. Und doch war Vettel nie der ganz große Motorsportheld in Deutschland. Er begeisterte die Fans nicht wie sein großes Vorbild Michael Schumacher. Der siebenmalige Weltmeister berührte die Menschen, er riss sie mit. Vettel wirkte immer ein wenig zurückhaltender und überlegter. Weniger emotional. Eine Typfrage.
Vettel aber kann auch anders. Er kann ein Motivator sein. Eher im kleineren Kreis als im großen Scheinwerferlicht. Das hat er immer wieder bewiesen. Rennfahrer sind zwar Einzelkämpfer. Sie brauchen aber eine gute Mannschaft um sich. Vettel weiß das. Häufig ist es ihm gelungen, sein Team mitzureißen. Die Ingenieure und Mechaniker. Aber auch seine Chefs. Am Sonntag will er etwas zurückgeben. Ein letztes Mal. Er wird die Aston-martinmannschaft nach dem Rennen zum Essen einladen. Solche Abende mag der 35-Jährige. Ein bisschen reden, Spaß haben. Und womöglich das ein oder andere alkoholische Getränk genießen. Jetzt darf er das, als Ps-rentner.
2006 fuhr die Formel 1 noch in Deutschland. Vettel war Test- und Ersatzfahrer bei BMW. Am Donnerstag vor dem Heimrennen war es üblich, dass der deutsche Hersteller Journalisten zum Abendessen an die Rennstrecke bat. Ein entspannter Plausch mit dem damaligen Teamchef Mario Theissen sowie den beiden Stammpiloten Nick Heidfeld und Robert Kubica. Später am Abend tauchte ein junger Fahrer auf, unbekümmert und voller Energie. Er lachte viel, erzählte Witze und sorgte für eine gelöste Stimmung. Sebastian Vettel hatte die Menschen in kurzer Zeit für sich begeistert. Seinen Humor und seine Schlagfertigkeit hat er behalten. Vettel kann ein guter Unterhalter sein, ein sehr angenehmer Gesprächspartner. Interviews aber mag er nicht. Vor allem die Gespräche über Motorsport und speziell die Formel 1 sind ihm zuletzt immer schwerer gefallen. Der Umgang mit der Presse ist für ihn mehr Zwang als Leidenschaft.
Es gab sie dennoch, die persönlichen Treffen, auch nach dem ersten Kennenlernen 2006. Einmal bei einem Seifenkistenrennen von Red Bull, als Vettel als Stargast in die Nähe von Dortmund gereist war. Er fuhr selbst mit als „Super-seb“und hatte großen Spaß. Später wartete er in einem kleinen Zelt. Gut gelaunt, es sollte ein angenehmes Gespräch werden. Er nahm sich viel Zeit und antwortete ausführlich. So auch einige Jahre später beim Rennen in Ungarn, als er an der Strecke auf der Terrasse der Teamunterkunft in der Sonne saß und ausgiebig über seine Wahlheimat auf der Schweizer Seite des Bodensees sprach. Oder zuletzt mittels einer Videoschalte während der Corona-pandemie, als er schon lieber über seine Umweltprojekte reden wollte als die Eintönigkeit in der Formel 1.
Vettel hat sich in der Schweiz seinen Rückzugsort aufgebaut. Er hat einen ehemaligen Bauernhof umgebaut, mit Tennisplatz und weiteren Annehmlichkeiten. Hier hat Vettel seine Ruhe. Seine Nachbarn lassen ihn unbehelligt. Früher fuhr er häufig auf die deutsche Seite nach Konstanz. Zum Fischessen, ins Kino oder in den Baumarkt. Vettel liebt es, zu Hause zu werkeln. Dabei muss alles perfekt sein. Schon ein schief hängendes Bild nervt ihn. Perfektion in allen Lebenslagen, das zeichnet ihn aus. Aber auch seine Bodenständigkeit. Mitgegeben von seinem Vater Norbert, der eine Zimmerei in Heppenheim hatte. Ein bisschen Luxus aber darf auch bei ihm sein. So fuhr Vettel senior bei einem Rennen auf dem Hockenheimring mit einem roten Ferrari vor. Kennzeichen: HP-NV-1.
Sebastian Vettel hat in seiner Karriere viel Geld verdient. Er hat Pokale gewonnen und Titel. Er hat sich viele Träume erfüllt. Der 35-Jährige aber hat sich verändert. Von Jahr zu Jahr mehr. Der einstige Psliebhaber, der es überhaupt nicht fassen konnte, als die Motoren nicht mehr so laut röhren sollten, ist zum Umweltschützer geworden. Er setzt sich für Nachhaltigkeit ein. Vettel blickt mittlerweile weit über die Streckenbegrenzung hinaus. Er hat verstanden, dass es eine Welt und ein Leben außerhalb der Formel 1 gibt. Und dass dort nicht alles optimal läuft. Er kann alleine durch seine Persönlichkeit und Ausstrahlung viel bewirken. Vettel ist Bienenbotschafter geworden, er engagiert sich mit anderen Prominenten.
Nicht alle nehmen ihm seinen Wandel ab. Rennfahren rund um den Globus passt nicht zwingend mit Umweltschutz zusammen. Vettel aber ist es ernst. Auch das dürfte ein Grund für sein Karriereende sein. Neben seiner Familie, mit der er künftig mehr Zeit verbringen möchte. Was aber noch? „Ich kann keine genaue Antwort geben, was als Nächstes kommt“, sagt Vettel im Podcast der Formel 1. „Ich habe viele Ideen, viele Sachen, die ich ausprobieren will.“Ohne Druck will er das angehen, aber mit dem Wissen, dass durchaus nicht alles perfekt laufen wird. Dabei war Perfektion immer sein Bestreben. „Ich wollte immer besser werden. Nur weil ich das letzte Rennen gewonnen habe, heißt das ja nicht, dass ich das nächste Rennen auch gewinnen werde. Deswegen muss man nach einem Sieg mindestens genauso viel arbeiten, wenn nicht sogar härter, da die Gegner angestachelt sind“, sagt er im Interview mit Sport 1.
Vettel hat sich nie den Mund verbieten lassen. Nicht als Nachwuchsfahrer, als er sich 2004 ärgerte, dass er nur 18 von 20 Saisonrennen in der Formel BMW gewonnen
Schumacher riss die Leute mit, Vettel wirkte immer überlegter
Er hat sich nie den Mund verbieten lassen
hatte. Und nicht jetzt, wenn es um wichtige Themen außerhalb der Formel 1 geht. Er war der erste Fahrer, der klar äußerte, dass er nach dem von Wladimir Putin begonnenen Krieg in der Ukraine keinesfalls das Rennen im russischen Sotschi fahren werde. Die Formel 1 nahm das Rennen wenig später aus dem Kalender. In Ländern, die Homosexualität noch immer verteufeln, trägt er die Regenbogenflagge. Auf dem Shirt oder als Schweißband. Ob das den Formel-1-bossen gefällt, ist ihm egal.
Zusammen mit Rekordweltmeister Lewis Hamilton engagiert er sich. Sie sind Brüder im Geiste unter sonst austauschbaren Piloten, die ihren Job zwar pflichtgemäß erfüllen, darüber hinaus aber kaum auffallen. „Ich glaube, ich habe noch keinen Fahrer in der Geschichte des Sports gesehen, der das getan hat, was er und ich getan haben, nämlich die Plattform zu nutzen, offen zu sein und dieses Risiko einzugehen“, sagte der zwei Jahre ältere Hamilton zuletzt. Er sehe Vettel „wirklich als Verbündeten. Und es wird sehr traurig sein, ihn gehen zu sehen.“
Vettel wird gehen, das ist klar. Am Sonntag wird er sein letztes Rennen fahren. Mit welchen Gefühlen? Kopfschütteln. Er weiß es nicht. Zuletzt sprach er sogar davon, dass man ja nie wisse. Dass in wenigen Jahren alles anders sein könne. Dass er irgendwann wieder Lust auf die Formel 1 bekommen könnte. Es wäre der nächste Wandel. Noch aber ist er von seinem Rücktritt überzeugt. „Ich habe insgeheim die Erwartung an mich, auch ohne Formel 1 klarzukommen“, sagt er. „Ich bin mir aber bewusst, dass der zweite Schritt in das Leben nach dem Sport viel schwieriger ist.“