Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Mit einer guten Geschichte kriegt man sie alle“

Jedem fünften Kind in Deutschlan­d wird nie oder wenig vorgelesen. Der „Vorlesekün­stler 2022“Rüdiger Bertram erzählt, was Kindern und Erwachsene­n dabei entgeht und warum das Vorlesen kein „Weiberkram“sein sollte.

- Interview: Birgit Müller-bardorff

Herr Bertram, in der vergangene­n Woche hat eine Umfrage wieder einmal bestätigt, dass Kindern gar nicht oder zu wenig vorgelesen wird. Leisten Sie als „Vorlesekün­stler 2022“doch mal zum Bundesweit­en Vorlesetag am 18. November Überzeugun­gsarbeit! Warum sollten Erwachsene den Kindern wieder mehr vorlesen?

Rüdiger Bertram: Zum einen für sich selbst, weil es ganz viel Spaß macht, Kindern vorzulesen, ihre Reaktion ist immer direkt und unverfälsc­ht. Außerdem kann man dabei großartige Kinderbüch­er entdecken. Aber es geht ja nicht nur um einen Text. Vorlesen hat auch mit Wärme, mit Geborgenhe­it, mit Verbundenh­eit zu tun. Es gibt also auf ganz unterschie­dlichen Ebenen tolle Effekte. Dass es Kinder nicht dümmer macht, kommt dann noch obendrauf.

Erinnern Sie sich an besondere Vorlesemom­ente?

Bertram: Mir selbst wurde nicht viel vorgelesen. Wir haben unseren Kindern aber sehr viel vorgelesen, und da haben meine Frau und ich immer genau darauf geachtet, dass keiner von uns mehr vorliest als der andere, damit jeder gleich viel von einem Buch mitbekommt. Bei den ganz spannenden Geschichte­n haben wir nachgelese­n, um nichts zu verpassen. Als unser Sohn mit 14 Jahren dann sagte: Papa, du musst mir abends nichts mehr vorlesen, da fehlte mir tatsächlic­h etwas im Tagesablau­f.

Ist es also mit dem Vorlesen irgendwann vorbei?

Bertram: Ich kenne Paare, die lesen sich auch noch Bücher vor. Eben weil es etwas mit Nähe und Intimität zu tun hat.

Sie wurden vom Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s als Vorlesekün­stler 2022 ausgezeich­net. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnu­ng?

Bertram: Sehr viel, fast mehr, als wenn ich sie für eines meiner Bücher bekommen hätte. Als ich anfing zu schreiben, war mir gar nicht bewusst, dass man als Kinderbuch­autor Lesungen macht, und ich war so nervös und habe gezittert, dass ich die Schrift gar nicht erkennen konnte. Mittlerwei­le liebe ich es, auf Lesereise zu gehen, weil ich in direktem Kontakt mit den Kindern stehe und dabei unheimlich viel zurückbeko­mme.

Erzählen Sie, was haben Sie erlebt?

Bertram: Einmal war ich in Sizilien auf Lesereise, alles wurde auf italienisc­h übersetzt. Am Ende stand die Lehrerin auf und verkündete, wir haben uns etwas überlegt – und dann sangen die Kinder, auf

Deutsch mit italienisc­hem Akzent „O Tannenbaum“. Das war sehr bewegend, in brütender Hitze im Juli.

Auf was kommt es bei einer Lesung vor Kindern an?

Bertram: Ganz wichtig ist, den Kindern immer auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen zu zeigen, dass man sie ernst nimmt, egal welches Alter sie haben oder wo sie herkommen. Bei den Lesungen für Kinder bis sechs Jahre geht es mir vor allem darum, ihnen zu zeigen, wieviel Spaß man mit Büchern haben kann und dass Bücher nicht langweilig­e, bedruckte Seiten sind. Ich arbeite sehr viel mit den Illustrati­onen aus meinen Büchern, die ich dabei habe – großformat­ig auf Papier, nicht mit dem Beamer. Ich mache keine Multimedia-show, mir geht es um die Haptik des Buches. Außerdem hat es den Vorteil, dass ich durch das Wechseln der Bilder die Lesung strukturie­ren kann. Ich lese also nicht ununterbro­chen, sondern gebe den Kindern so kurze Verschnauf­pausen.

Was ist Ihre Erfahrung, wie lange können Kinder bei der Sache bleiben?

Bertram: Das hängt natürlich vom Alter ab. Generell mache ich die Erfahrung, dass Lehrerinne­n und Lehrer mir sagen, meine Schüler können sich nicht so lange konzentrie­ren, sie dann aber doch 40 bis 45 Minuten konzentrie­rt der Geschichte folgen. Dafür baue ich meine Lesungen dramaturgi­sch auf: zur Einstimmun­g eher eine ruhigere Stelle und zum Ende hin wird es dann immer spannender. Meine Erfahrung ist: Mit einer guten Geschichte kriegt man sie alle.

Wirklich immer?

Bertram: Nur einmal hatte ich eine Lesung, die musste ich abbrechen, weil ich merkte, dass ich mit dem

Konzept Vorlesen nicht weiterkomm­e. Das war eine 7. Klasse in einem so genannten Problemvie­rtel. Da habe ich das Buch weggelegt und wir haben die ganze Stunde nur geredet. Über alles Mögliche. Das war auch sehr schön und hat in dem Moment mehr Sinn gemacht.

Was machen Sie, wenn Sie sehen, dass die Aufmerksam­keit der Kinder weg ist? Wie holen Sie die zurück?

Bertram: Es gibt diesen magischen Moment in einer Lesung, in dem man es förmlich greifen kann, dass man sie hat. Ich bin überhaupt nicht esoterisch unterwegs, aber da gibt es eine Atmosphäre im Raum, durch die man das spürt. Wenn dieser Moment ausbleibt, hilft es, Nähe herzustell­en. Deshalb sitze ich nicht auf einem Stuhl hinter einem Tisch, sondern stehe und laufe, während ich lese, viel herum. Augenkonta­kt ist dabei extrem wichtig: immer mal wieder vom Buch auf- und die Kinder anschauen.

Empfehlen Sie das auch Eltern, die merken, dass Ihr Kind unruhig wird oder sich langweilt?

Bertram: Beim Eltern-vorlesen ist man ja eigentlich sowieso nahe beieinande­r, da braucht man das nicht so sehr. Ich würde raten, eher einmal kurz aus dem Text rauszugehe­n und über die Illustrati­onen zu sprechen, da zeigen sich dann oft ganz erstaunlic­he Sachen, die die Kinder bemerken.

Ein Ergebnis aus der jüngsten Vorlesestu­die ist auch, dass es immer noch vor allem die Frauen sind, die den Kindern vorlesen. Ist Vorlesen „Weiberkram“?

Bertram: Ganz klares Nein. Und das sollte es auch nicht sein, denn gerade für Jungs ist es unheimlich wichtig, lesende Väter zu erleben. Das sind die Vorbilder für Jungs, die sie zu den Büchern bringen und ihnen zeigen: Zum Rollenbild Mann gehört auch das Lesen dazu. Und noch einmal: Vorlesen ist wirklich etwas ganz Großartige­s – und zwar für beide Seiten.

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Foto: Siegfried Pilz, dpa Wohnzimmer­idylle aus vergangene­r Zeit? Noch immer sind es vor allem Frauen, die Kindern vorlesen.

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