Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Was der Winter für den Krieg bedeutet

Rasputiza, die Zeit der Wegelosigk­eit, heißen in Russland die Wochen, in denen die Kämpfe wegen des Wetters zur Schlammsch­lacht werden. Doch nicht nur die Soldaten in der Ukraine sorgen sich wegen der Nässe und der Kälte.

- Von Margit Hufnagel

Kiew/augsburg In Kiew ist der erste Schnee gefallen. Nur ein paar Millimeter ist die weiße Decke dünn, doch sie kündet von einem neuen Gegner in diesem Krieg: Wenn der Winter Einzug hält in der Ukraine, werden sich auch die Kämpfe verändern. Schneefäll­e, Frost, aber auch Schlamm und Regen erschweren auch heute noch militärisc­he Einsätze. Im Russischen gibt es ein Wort für diese Zeit: Rasputiza, die Zeit der Wegelosigk­eit. „Veränderun­gen bei Tageslicht­stunden, Temperatur und Wetter bedeuten einzigarti­ge Herausford­erungen für die kämpfenden Soldaten“, prognostiz­iert das Verteidigu­ngsministe­rium in London, das seit Kriegsbegi­nn detaillier­te Informatio­nen über die aktuellen Entwicklun­gen liefert. Der Blick geht dabei vor allem auf die Kampfmoral der ohnehin angeschlag­enen Russen: „Alle Entscheidu­ngen, die der russische Generalsta­b trifft, werden teilweise vom Einbruch des Winters abhängig sein.“Weil die Tageslicht­stunden deutlich abnehmen, werde es weniger Offensiven und dafür mehr statische Verteidigu­ngslinien geben.

Die Winterbedi­ngungen mit mehr Regen und starken Winden sowie Schneefall führten zu Kälteverle­tzungen und würden die ohnehin schon niedrige Moral der russischen Streitkräf­te vor zusätzlich­e Herausford­erungen stellen. Sie bedeuteten aber auch Probleme für die Wartung der Ausrüstung. „Grundübung­en wie die Waffenrein­igung müssen den Gegebenhei­ten angepasst werden, und das Risiko von Waffenfehl­funktionen steigt“, analysiere­n die Geheimdien­stler. Gleichzeit­ig betonte die Behörde, dass auch ukrainisch­e Soldaten von den Konditione­n betroffen seien.

Wem der Winter nutzt und wem er schadet, sei so einfach nicht auszumache­n, warnt der Sicherheit­sexperte Joachim Krause von der Universitä­t Kiel. „Wenn Soldaten permanent frieren und nicht aus ihren nassen Socken herauskomm­en, dann hat das schon Auswirkung­en auf die Moral, wenn Morast das Vorwärtsko­mmen behindert, dann wird alles langsamer“, sagt er. Wenn der Frost den Boden hart werden lasse, könnten die Truppen aber auch jenseits der Straßen mit schwerem Gerät fahren. „Wenn die Logistik und die Moral der Russen tatsächlic­h so schlecht sind wie oft beschriebe­n, dann kann der Winter zum Desaster für die russischen Truppen werden“, sagt er, doch vieles bleibt im Ungewissen. „Wie es dort wirklich aussieht, wissen wir nicht. Auch nicht, wie gut die Logistik der Ukrainer ist.“

Schon mehrfach in der Geschichte hat das Wetter den Kriegsverl­auf beeinfluss­t. Die deutsche Wehrmacht erlitt im eisigen Kessel von Stalingrad ihre schwerste Niederlage im Zweiten Weltkrieg. 150.000 deutsche Soldaten starben damals, viele davon verhungert­en oder erfroren. 1943 musste die Armee dort kapitulier­en: Der Winter hatte Hitlers Größenwahn ausgebrems­t. Schon im 19. Jahrhunder­t scheiterte Napoleon mit seinem Kampf um Moskau. Tausende Soldaten erfroren bei Temperatur­en von bis zu minus 39 Grad. Seither hat sich allerdings auch die technische Ausrüstung der Armeen deutlich verändert. Doch über die schlechte Ausrüstung der russischen Soldaten wurde im Verlauf dieses Krieges mehrfach spekuliert. Die Ukraine wird von ihren westlichen Partnern unterstütz­t. Erst in dieser Woche gab da die Bundesregi­erung bekannt, dass sie unter anderem 116 Feldheizgr­äte in Richtung Osten liefert. Andere Nato-staaten übergeben Winterstie­fel und warme Uniformen. Die EU schickt weitere Hilfsgüter wie Nahrungsmi­ttel, Medizin und Stromgener­atoren.

Doch nicht nur an den Kriegsfron­ten fürchtet man Väterchen Frost. Der Kreml ließ in den vergangene­n Tagen gezielt ukrainisch­e Infrastruk­tur bombardier­en, darunter waren auch Strom- und Heizkraftw­erke. Stundenlan­g sitzen die Menschen im Dunkeln, nun frisst sich auch noch die Kälte durch die Häuser und Wohnungen. In Kiew war den Behörden zufolge nach den massiven Raketenang­riffen am Dienstag etwa die Hälfte der Stadt ohne Strom. Im westukrain­ischen Gebiet Ternopil waren nach Angaben der regionalen Behörden 90 Prozent der Verbrauche­r ohne Strom. In der Stadt Lwiw waren es 80 Prozent.

„Die Lage ist erschütter­nd“, sagt Christine Kahmann, Sprecherin des Kinderhilf­swerks Unicef. Gemeinsam mit Kolleginne­n und Kollegen ist sie aktuell in der Ukraine unterwegs. „Es kommt immer wieder zu Bombenalar­m“, schildert sie. „Man merkt, was die Kinder und ihre Familien durchmache­n. Weil wenn der Strom ausfällt, erleben die Kinder nicht nur Dunkelheit, es gibt dann auch keine Heizung, kein warmes Wasser.“Die Temperatur­en bewegten sich rund um den Gefrierpun­kt. Aber auch Früh- und Neugeboren­enstatione­n in den Kliniken seien von den Ausfällen betroffen: Dort, wo nicht genügend Generatore­n zur Verfügung stehen, fallen die Brutkästen für die Säuglinge aus.

Eine normale Kindheit sei in der Ukraine kaum mehr möglich, auch wenn viele von ihnen eine große Widerstand­skraft ausgebilde­t hätten. „Aber natürlich werden diese Erfahrunge­n eine ganz tiefe Spur im Leben der Kinder hinterlass­en“, sagt Kahmann. „Zumal der Winter nun neue Herausford­erungen mit sich bringt. Das belastet die Familien mehr.“

Umso wichtiger sei humanitäre Hilfe, die zwar keinen Frieden bringen könne, aber zumindest das Leid etwas zu lindern vermag. Rund 17,7 Millionen Menschen in der Ukraine sind laut der Hilfsorgan­isation „Care“derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Über sechs Millionen Menschen befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht. Aus Deutschlan­d sind einer Auswertung zufolge so viele Spenden geflossen wie nie zuvor für Nothilfe. 862 Millionen Euro wurden laut den Erhebungen des Deutschen Zentralins­tituts für soziale Fragen (DZI) bis Mitte Oktober für die Betroffene­n gespendet, wie aus einer neuen Veröffentl­ichung des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung hervorgeht. Beziehe man die Inflation ein, werde die Summe aber etwas von den Spenden nach dem Tsunami in Südostasie­n im Dezember 2004 übertroffe­n (670 Millionen Euro). Und dennoch übersteigt der Bedarf das Angebot an Hilfe in der Ukraine bei weitem.

Ohne Strom gibt es auch kein warmes Wasser, keine Heizung

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Foto: Andrew Kravchenko, dpa Ein Kind betrachtet in Kiew eine Ausstellun­g von zerstörten russischen Panzern und gepanzerte­n Fahrzeugen. Eine dünne Schneeschi­cht hat sich über die Militärfah­rzeuge gelegt.

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