Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Haberstocks Erbe geht ins Netz
Mitläufer? Freund der Nationalsozialisten? Wer war Karl Haberstock? Mit dem Nachlass des Kunsthändlers befasst sich Horst Keßler seit 2001. Jetzt soll seine Forschung auch auf einer digitalen Plattform öffentlich sichtbar werden.
Tief im Innern des Augsburger Schaezlerpalais, aber in einer Ecke abseits der prächtigen Museumsräume, dort arbeitet Horst Keßler: In seinem Büro stapeln sich Bücher wie Brocken auf den Regalen, Folianten und Ordner neben Kisten und Koffern aus einem vergangenen Jahrhundert. Aber das Flair der dicken Wälzer täuscht: Der Historiker arbeitet hier gerade an einem digitalen Projekt. Keßler möchte seine Forschungsergebnisse bald online präsentieren, im Internet sichtbar machen für die gesamte Öffentlichkeit. Sein Forschungsgegenstand: das schwierige Erbe des Kunstsammlers Karl Haberstock.
Keßler hat sich diesem Mann genähert, Fall um Fall, Dokument um Dokument, in gut 20 Jahren Arbeit. Wer war Haberstock? „Zu Beginn der kritischen Diskussion haben ihn ja viele in erster Linie als einen Nationalsozialisten wahrgenommen. Ich sehe Haberstock aber als einen opportunistischen Geschäftsmann“, sagt der Experte. Rückblende: Karl Haberstock, Spross einer Bankiersfamilie, kam 1878 in Augsburg zu Welt. Früh entdeckte er die Kunst für sich und mit der Kunst auch seinen Sinn für das Geschäft. In Berlin baute er sich eine Galerie und einen Ruf auf. Als Adolf Hitler sein geplantes „Führer-museum“in Linz mit Kostbarkeiten ausstatten wollte, war Haberstock für ihn eine wichtige Adresse, der Diktator stattete ihm einen Besuch ab. Es war die Zeit der Enteignungen, das Regime raubte dabei vor allem den Besitz von Juden und Jüdinnen. Kunstschätze fielen über krumme Wege, vielfach mit Gewalt oder aus Not, in die Hände neuer Besitzer.
Aber dieses Kapitel im Leben Haberstocks, der Kunstkäufe für Himmler, Goebbels und Göring eingefädelt hatte, verblasste mit Kriegsende. Eine Spruchkammer urteilte über ihn: „Entlastet“. Als seine Witwe Magdalene nun nach Haberstocks Tod bei der Stadt Augsburg anklopfte, es war das Jahr 1956, da standen ihr die Türen offen. Ja, die Stadt würde Karl Haberstocks Erbe verwalten, im Rahmen einer Stiftung. Ein Gemälde von Paris Bordone und 5000 Mark bildeten den Grundstock. Weitere teure Kunst folgte, von Tiepolo, Canaletto, zudem Uhren, Lüster, Porzellan, Rüstungsteile, Briefe – und 6200 Fotografien zur Sammlung.
Eine Erbe mit Gewicht und mit Folgen. Jahrzehnte später brach ein Eklat aus. Christof Trepesch, Direktor der Kunstsammlungen und Museen Augsburg, erklärt: „In einer ersten Publikation zu Haberstock von 1991 waren die Jahre 1933 bis 1945, die Zeiten des Nationalsozialismus, noch ausgeklammert.“Ein blinder Fleck. Und darauf stieß der Kunsthistoriker Jonathan Petropoulos. Er kritisierte die versäumte Aufarbeitung, der World Jewish Congress warf der Stadt Augsburg eine Glorifizierung Haberstocks vor, drohte mit Boykottaufrufen. „Nach dieser starken, heftigen Kritik hat die Stadt Herrn Keßler verpflichtet“, sagt Trepesch. Das war 2001. Damit begann die Suche nach der Herkunft der Objekte. Provenienzforschung.
Noch immer landen Anfragen bei Horst Keßler, von Menschen aus aller Welt, die in der Sammlung Objekte vermuten, die eigentlich ihrer Familie, ihren Ahnen gehörten. Dann forscht Keßler nach der tatsächlichen Herkunft, dem rechtmäßigen Besitzverhältnis. „Klar ist für uns heute: Wenn ein Museum so eine Anfrage erreicht, dann muss man sich dazu verhalten“, sagt Trepesch. Keßler erklärt: „Wenn eine Anfrage vorliegt, mit einem Anliegen, dann ist es unsere Aufgabe, zu prüfen, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Am Ende darf da kein Zweifel bleiben, wenn ein Objekt zurückgegeben werden soll: Es muss eindeutig sein.“
So wie in diesem Frühjahr, als Keßler Klarheit schaffen konnte im Fall Gutmann: 16 Kunstgegenstände aus Glas, Porzellan, Silber, ein Damenschreibtisch um das Jahr 1800 – sie sind seit Mai wieder in der Hand ihrer rechtmäßigen Besitzer. Die Objekte lagen lange in der Karl und Magdalene Haberstock-stiftung. Jetzt hat sie Simon Gutmann, Erbe des früheren jüdischen Eigentümers und Kunstsammlers Friedrich „Fritz“Gutmann, wieder erhalten.
Die Verhältnisse offenlegen, das ist auch das erklärte Ziel des neuen Projekts: Den Sammlungsbestand, Haberstocks Geschäftsbücher, auch die Vorgänge von 1933 bis 1944, will die Stadt online veröffentlichen. Die Informationen sollen auf einer eigenen Seite, einem Online-portal einsehbar sein. Bis September 2023 will die Stadt erste Ergebnisse präsentieren.
Haberstocks Nachlass bleibt für Keßler herausfordernd: „In 90 Prozent der Fälle war und ist es schwer, herauszufinden, welche Wege so ein Objekt gegangen ist. Wir durchforsten Einkaufs- und Verkaufsbücher, Kataloge von Auktionshäusern, Korrespondenzen. Oft steht da im Geschäftsbuch nur ein Vermerk zum Objekt wie: ‚Dose’. ‚Vase’. Oder: ‚Stillleben mit Ente’. Und damit stehen immer noch 100 Objekte zur Auswahl.“Wie lang es dauert, die Herkunft eines Objekts zu prüfen, bis man Gewissheit hat? „Zwischen drei Tagen und dreizehn Jahren“, sagt Keßler und lächelt. Er kann aber auf ein weites Netzwerk bauen: „Ich bin Mitglied im Arbeitskreis Provenienzforschung, das ist ein großes Netz von Experten und Expertinnen, in dem Wissen ausgetauscht wird.“
Bis September liegen noch viele Monate Arbeit vor Horst Keßler, dann wird er in den Ruhestand treten. „Ich sehe, was ich bisher geschafft habe, aber auch, was noch bleibt. Die Arbeit hört nicht auf, die Forschung wird weitergehen.“