Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Von Johann Stoll, Daniela Hungbaur und Markus Raffler

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Die Tür öffnet sich einen Spalt breit. Herein spitzt eine kleine Nase. Eine Sekunde später sind auch zwei dunkle Augen zu sehen. Dann geht es ganz schnell. Ein kleines Mädchen stürmt in den Raum und auf seine Mutter zu. Ihm dauert das alles zu lange. Die Zweitkläss­lerin will zu ihrer Mama und ihr ganz dringend etwas erzählen, was einfach nicht warten kann. Ein glückliche­s, lebhaftes Kind, denkt jeder sofort, der die Achtjährig­e das erste Mal zu Gesicht bekommt. Dabei hatte sie es noch vor ein paar Jahren sehr schwer.

Dass es Sofia und ihrer Mutter Johanna V. (Namen auf Wunsch geändert) heute so gut geht, hat viel mit einer glückliche­n Wende in ihrem Leben zu tun. Denn Johanna V. hat schlimme Zeiten erleben müssen. Als sie ganz unten war und nicht mehr weiterwuss­te, fanden Mutter und Tochter Aufnahme im Ellinor-hollandhau­s in Augsburg. Ein ganz besonderes Haus, das von der Kartei der Not getragen wird, dem Leserhilfs­werk unserer Zeitung. Für Mutter und Tochter sollten sich die drei Jahre in dieser behüteten Umgebung als Glückslos erweisen.

Im Ellinor-holland-haus leben 80 Alleinerzi­ehende, Familien, Alleinsteh­ende und ältere Menschen in 28 Wohnungen, um zurück in ein selbstbest­immtes Leben zu finden. Unterstütz­t werden sie dabei von einem engagierte­n Team pädagogisc­her Fachkräfte. Bis zu drei Jahre Zeit bekommen die Bewohner, wieder im Leben Fuß zu fassen.

Es sind Menschen mit unterschie­dlichen Schicksale­n, die hier die Zeit für einen Neustart in ihrem Leben erhalten. Auch eine ukrainisch­e Familie lebt hier, lernt Deutsch und macht sich fit für den Arbeitsmar­kt. Viele Alleinerzi­ehende sind dabei, die Gewalt erleben mussten – so wie Johanna V. „Das Ellinor-holland-haus war meine Rettung“, sagt die 28-Jährige.

Sie hat jung geheiratet. Mit 20 kam das Kind. Alles schien auf einem guten Weg zu sein. Bis ihr Mann immer mehr getrunken und auch illegale Drogen konsumiert hat. „Dann hatte er immer öfter Aussetzer“, erzählt Johanna V. Erst auf Nachfrage verrät sie mehr. Er wurde gewalttäti­g und hat sie im Rausch wiederholt geschlagen.

Sie hat das lange Zeit weggesteck­t bis zu jenem Tag, als ihr Mann sich betrunken auf den Balkon gestellt und vor seiner kleinen Tochter angekündig­t hat, er werde jetzt in die Tiefe springen. Das war der Moment, an dem es für die junge Mutter kein Halten mehr gab. „Ich muss hier weg“, sagte sie sich damals, stopfte schnell die nötigsten Papiere und Wäsche in einen kleinen Reisekoffe­r und nahm regelrecht Reißaus vor ihrem Mann. Mit dem Auto einer Freundin flüchtete sie mit ihrer kleinen Sofia ins Frauenhaus, das fast 100 Kilometer von ihrem Wohnort im Allgäu entfernt lag.

Mehr als ein Jahr lang lebte sie dort in einer Wohngemein­schaft. Viel Geld zum Leben hatten sie nicht. Ihr Bankkonto war von ihrem Mann leer geräumt worden. Mit 85 Euro pro Woche mussten Mutter und Tochter auskommen. „Aber das war mir egal, Hauptsache ich war frei“, sagt sie. Endlich konnte sie wieder so leben, wie sie wollte. Nur die Angst, dass ihr Mann sie doch noch aufspüren könnte, hat sie lange belastet.

Sofias Mutter stammt aus der Karibik, ihr Vater aus Oberbayern. Zwei Jahre alt war Johanna V., als ihre Eltern mit ihren vier Geschwiste­rn ins Allgäu gezogen sind. Auch ihre Ehe hielt nicht sehr lange. Ihre Mutter schlägt sich seither alleine durch und arbeitet in der Altenpfleg­e.

Johanna V. hat gerne im Allgäu gelebt. Die Menschen begegneten ihr freundlich, erzählt sie. Nie hat sie ein böses Wort über ihre Herkunft gehört. Anders war das, als sie im Frauenhaus lebte und ihre Tochter in die erste Klasse kam. Die quirlige Sofia wurde immer stiller. Und eines Tages fragte sie, was das N-wort bedeutet. Ob das eine Beleidigun­g sei, mit der sie Mitschüler traktiert hatten. Sofia nahm sich das sehr zu Herzen. Sie sprach mit niemandem mehr und wollte nicht mehr in die Schule gehen. Unter der Dusche rubbelte sich das Mädchen auf ihrer Haut herum in der Hoffnung, sie heller zu bekommen.

Im Ellinor-holland-haus haben Mutter und Tochter neuen Mut gefasst. Johanna V. konnte in diesen drei Jahren mithilfe des Jobcenters eine Ausbildung zur Elektriker­in für Energie- und Gebäudetec­hnik machen. Ihre Tochter war in dieser Zeit immer gut in der Kindertage­sstätte untergebra­cht. Sie ist zuversicht­lich, dass sie mit dieser Ausbildung schnell einen guten Arbeitspla­tz finden wird.

Mit mehr Schwierigk­eiten rechnet sie bei der Wohnungssu­che. Als Alleinerzi­ehende sei es sehr schwer, hat sie erfahren müssen. Aber sie weiß auch, dass die Mitarbeite­rinnen im Ellinor-holland-haus alles tun, ihr auch weiterhin zu helfen. Der Geschäftsf­ührer der Kartei der Not, Arnd Hansen, kennt die Probleme auf dem Wohnungsma­rkt. Er bittet mögliche Vermieter herzlich darum, die Bewohnerin­nen und Bewohner aus dem Ellinor-holland-haus, die ihr Leben trotz schweren Schicksals­schlägen so gut meistern, bei der Wohnungssu­che zu unterstütz­en.

Für die Hilfe im Ellinor-holland-haus ist Johanna V. unendlich dankbar. Egal, welches Problem zu lösen war, die Mitarbeite­rinnen haben sich die Zeit für sie genommen und ihr geholfen, erzählt sie. Das werde sie nie vergessen.

Es sind viele solcher Erfolgsges­chichten, die das Ellinor-holland-haus möglich gemacht hat. Die Vorsitzend­en des Kuratorium­s der Kartei der Not, Ellinor Scherer und Alexandra Holland, freuen sich sehr, dass sich dieser vor sechs Jahren eingeschla­gene Weg als richtig und wichtig erwiesen hat. „Das Zerbrechen der Familie, der Verlust der Wohnung, Gewalt, ein Unfall oder ein anderer Schicksals­schlag können Menschen in eine schwierige Lebenssitu­ation bringen“, sagt Ellinor Scherer. Und Alexandra Holland ergänzt: „Die Betroffene­n brauchen Zeit und einen Ort, um wieder gut im Leben Fuß fassen zu können. Das bietet das Ellinor-holland-haus. Dort kümmert sich ein Team von Pädagoginn­en und Ehrenamtli­chen intensiv um die Familien.“Dies sei dank der großen Hilfsberei­tschaft der Spenderinn­en und Spender möglich. „Dafür möchten wir uns herzlich bedanken und Sie alle bitten, unsere Arbeit weiter zu unterstütz­en.“

Denn nicht nur im Ellinor-hollandhau­s steht die Kartei der Not Menschen bei, die in Lebenskris­en geraten sind. Seit über 55 Jahren können sich einzelne Personen und Familien auch über eine soziale Beratungss­telle bei ihnen vor Ort an unser Leserhilfs­werk wenden und für eine ganz konkrete Notlage einen finanziell­en Zuschuss beantragen. Denn gerade Menschen, bei denen das Geld ohnehin sehr knapp ist, bekommen oft existenzie­lle Probleme, wenn beispielsw­eise plötzlich Herd oder Kühlschran­k kaputt gehen, wenn das für Arzttermin­e und Arbeit unverzicht­bare Auto nicht mehr fährt oder – wie aktuell besonders dramatisch – hohe Strom- oder Heizkosten fällig werden.

In finanziell und psychisch höchst angespannt­en Verhältnis­sen leben aber gerade auch viele Ehepaare oder Alleinerzi­ehende mit einem pflegebedü­rftigen Kind. Für die gesunden Geschwiste­rkinder, auch Schattenki­nder genannt, bleibt nicht selten nicht einmal Geld für eine Geburtstag­sfeier oder den Sportverei­n.

Das Leserhilfs­werk unserer Zeitung hat aber beispielsw­eise auch schon die Anschaffun­g eines E-bikes bezuschuss­t, um einem Ehepaar die regelmäßig­en Ausflüge mit ihrem geistig beeinträch­tigten Sohn weiter zu ermögliche­n. „Ohne die finanziell­e Hilfe hätten wir uns dieses E-tandem einfach nicht leisten können“, erzählt die Mutter und schildert, wie wichtig es für sie und ihren Mann ist, dass ihr erwachsene­r Sohn, der seit einigen Jahren in einer Fördereinr­ichtung lebt, an den Wochenende­n zu ihnen nach Hause kommen und mit dem Papa gemeinsam Rad fahren kann. Allein könne der junge Mann kein

Um im Leben wieder gut Fuß zu fassen, brauchen die Betroffene­n Zeit und einen Ort.

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Fotos: Ulrich Wagner

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